Der Cherub
- christliche Kurzgeschichte -





Der Cherub




Fast war die Sonne am Horizont verschwunden, nur ein paar letzte Strahlen verschönten den Himmel. Es war wieder einer der unzähligen Abende, wie der Cherub Haziel sie seit Jahrtausenden, am Eingang des Paradieses, verbracht hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit musste er besonders vorsichtig sein. Es war die Stunde der vermeintlich ganz Schlauen, die versuchten, unbemerkt ins Paradies zu schlüpfen. Zugegeben, der Andrang hatte in den letzten Jahren spürbar nachgelassen, aber das hieß nicht, dass er unaufmerksam werden durfte. Zu ihren Lebzeiten hatten die meisten Erdenbewohner andere Paradiese im Kopf, die in der Regel etwas mit dem schnöden Mammon zu tun hatten. Zudem hatten sich die Einlass Suchenden verändert. Im Moment waren es hauptsächlich Menschen, sie sich selbst getötet hatten und glaubten, dass ihnen im Paradies eine Schar von Jungfrauen den Tag versüßen würde. Da waren sie bei ihm an der falschen Adresse. Schließlich war das Paradies kein Ort für Verstorbene, wo es doch die sieben Himmel und noch Abrahams Schoß gab. Aber immer wieder versuchten es die Toten, selbst diejenigen, die es eigentlich wissen mussten, hineinzugelangen. Waren sie nicht gezeichnet mit den Schildchen in der Farbe, die ihre vorläufige Zukunft bestimmte? Aufgrund dieser Aussage wusst Haziel gleich, auf welche der Straßen er sie schicken musste. Das war eine einfache Sache, denn auch diese hatten eine Farbmarkierung.
Schon oft hatte er sich den Kopf über die Bedeutung der Farben zerbrochen. Rot war wohl eindeutig, das konnte nur das Höllenfeuer sein. Was aber bedeuteten die anderen Farben? Für die grün Gezeichneten bestand vielleicht noch Hoffnung. Für gelb und blau hatte er die Vermutung, dass es sich um nicht christliche, aber dennoch an Gott Gläubige handeln musste. Am Rätselhaftesten war weiß. Dabei konnte er sich nur den Himmel vorstellen. Allerdings hieß es in der Schrift, dass der endgültige Einzug in diesen erst mit dem Ende der Welt vonstattengehen würde. Da harrten diese Seelen möglicherweise an einem Zwischenort aus. Wo aber waren die bereits heilig Gesprochenen?
In der Schrift war von einhundertvierundvierzigtausend Gezeichneten die Rede, die einmal Gott anschauen durften. Gezählt hatte er sie nicht, die sich hierher verirrt hatten, aber es war ihm vorgekommen, als wären es jetzt bereits mehr, die mit der weißen Markierung angekommen waren. Es mussten ja mehr sein, denn in der Schrift waren mit dieser Zahl nur die Kinder Israels gemeint. Ob die noch nicht Geläuterten, das waren vielleicht die nicht weiß markierten, dazugehörten, war für seine Vorstellung auch nicht geklärt.
Häufig war Haziel der Gedanke gekommen, wozu das Paradies eigentlich nützlich war. Er stand immer auf seinem gleichen Platz am Eingang, bewaffnet mit einem feurigen Schwert, und durfte sich keinen Millimeter woandershin bewegen. Anfangs hatte ihm ein zweiter Cherubim zur Seite gestanden. Als das Kind in Bethlehem geboren wurde, durfte er davonschweben, um bei seiner Geburt zu singen. Zurückgekommen war er nicht.
Von seinem Platz aus konnte Haziel in das Paradies hineinsehen. Es war immer das gleiche Bild: wunderschöne Blumen, prächtig aussehende Tiere und zu seiner Freude der Gesang der Vögel. Doch niemals sah er einen Menschen. War dem Schächer nicht am Kreuz versprochen worden, noch am gleichen Tag ins Paradies zu kommen? Selbst dieser kam niemals hier vorbei. Außerdem hieß es von Jesus in der Schrift: ‚und wurde emporgetragen zum Himmel‘.
Was war eigentlich so besonders an diesem Ort? Es war doch eher ein Ort für Lebende, denn Tote brauchten diese ganze Fülle der Früchte nicht mehr. Oder wollten die Seelen zurückhaben, was einmal ihnen zugedacht war? Sie hatten wohl vergessen, dass sie es verspielt hatten. Es gab auch eine Stelle in der Schrift, wo von einem neuen Himmel und einer neuen Erde die Rede war. Wenn das so kommen würde, dann wäre dieses Paradies eigentlich jetzt schon überflüssig.
Haziel fuhr zusammen. Nicht nur ein Rascheln im nahen Gebüsch, das von einem Hasen herrührte, sondern auch seine ketzerischen Gedanken waren die Ursache. Diese kamen von der Langeweile. Seine ursprüngliche Aufgabe war der Gesang. Mit seinen Brüdern hatte er nicht nur den Schöpfer, sondern auch den ganzen Himmel erfreut. Dann wurde ihm diese Aufgabe zugewiesen. Schluss mit dem Singen. Nicht einen Gedanken hatte er an einen Protest verschwendet. Zu frisch war die Erinnerung an die Verbannung von Luzifer, diesem strahlenden Engel, der an so hoher Stelle stand, und trotzdem immer noch mehr wollte. Nein, so war er, Haziel, nicht. Lieber hier Wache halten, als ein Verstoßener zu sein.
Trotzdem hätte er gerne etwas anderes getan. Sollte er es wagen mal auszuprobieren, ob seine Stimme noch immer so gut und kräftig war? Vielleicht wirkte das gegen den Frust. Ob das überhaupt erlaubt war? Verboten war es ihm nicht worden. Mutig versuchte er einen Ton. Nichts, kein einziger Laut! Doch, da war etwas! Aber es kam nicht aus ihm. Es war ein leises Weinen. Genau vor ihm lag ein totes, kleines Kind. Wie war es dahin gekommen? Hatte er es übersehen, als er mit seinen eigenen Problemen beschäftigt war? Normalerweise gerieten Kinder nur selten an diesen Ort. Ihre Seelen wurden vielmehr von einem Engel nach ihrem Tod abgeholt. Wohin sie gebracht wurden, das wusste Haziel nicht. Egal, er musste handeln. Er suchte das Zeichen auf dem Körper. Es war rot. „Nein,“ schrie er, „das kann nicht sein!“ Er wischte und wischte an der Farbe. Endlich, sie verblasste und reines weiß kam hervor. Es hatte an vertrocknetem Blut gelegen, das über das Zeichen geflossen war. Er nahm das Kind auf und trug es bis zur Wegkreuzung. Da stand schon ein Engel bereit und nahm es mit sich. Erschrocken schwebte der Haziel zurück. Er hatte, ohne zu überlegen, seinen Posten verlassen. Sein feuriges Schwert war jedoch noch da und hatte seine Aufgabe übernommen.
Jedes Mal, wenn es sich um ein Kind handelte, war Haziel seine Arbeit zuwider. Er wusste, dass es ihm nicht zustand, das Handeln des Herrn zu kritisieren. Verstehen konnte er es nicht. War es möglich, dass er sich im Laufe der Zeit die Denkweise der Menschen angewöhnt hatte, die alles und jedes infrage stellten? Das musste er ändern, denn er war schließlich ein Cherubim und seinem Herrn verpflichtet. Beinahe wäre er auf die Einflüsterungen dieses Beelzebub hereingefallen. Dieser war schlau, ungemein schlau! Er kannte genau die Schwachstellen seiner Opfer. Seine war wohl die Langeweile gewesen.
Diese Nacht stufte Haziel als keine gute ein. Immer mehr sehnte er sich nach dem Ende der Welt. Vielleicht würde er in der nächsten Ewigkeit eine bessere Aufgabe bekommen. War das eine neue Versuchung? Dieser Luzifer war hartnäckig, schließlich hatte er es sogar bei Gottes Sohn versucht. Also, lieber diesen Einflüsterungen widerstehen, nicht klagen, sondern weitermachen. Und nicht grübeln, sondern glauben, einfach nur glauben, denn einen Sinn hatte sicher auch diese Beschäftigung.



Quellennachweis:
1. Mose 3,24 Lukas 24,51
Offenbarung 7,4 +21,1



Regina Hesse



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