Rinah
- biblisch orientierte Kurzgeschichte -





Rinah




"Zum Weibe aber sprach er: Überaus zahlreich werde ich die Beschwerden
deiner Schwangerschaft machen. Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären.
Nach deinem Manne wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich
herrschen."
(1 Mose 3,16)

Schwer auf einen Stock gestützt schleppte sich Rinah durch die Straßen.
Hier und da blieb sie stehen und kramte in ihrer Erinnerung.
Hatte nicht da ein Haus gestanden oder dort? Es hatte sich alles so
verändert, sodass sie sich kaum zurecht fand. Kein Wunder, es waren
schließlich vierzig Jahre her, dass sie in dieser Stadt gelebt hatte.
Bisher hatte sie es immer vermieden hierher zu kommen, aber jetzt würde
sie wohl kaum jemand erkennen und sich an ihre Schmach erinnern.
In jedem Ort, wo sie sich in letzter Zeit aufgehalten hatte, war von
diesem neuen Propheten Jesus die Rede gewesen. Jetzt sollte er in diese
Stadt kommen.
„Er heilt Kranke“ sagten die Leute, „und tut noch viele andere
Wunder“.
Vielleicht hatte sie Glück und Jesus war noch nicht weiter gezogen. Sie
wusste selbst nicht genau, was sie sich von einer Begegnung mit ihm
erwartete aber ihre müden Füße hatten sie wie unter Zwang hierher
getragen.
Als sie in die Nähe der Straße kam, in der sie einmal gewohnt hatte,
überfiel sie ein Zittern. Die so mühsam begrabenen Bilder standen wieder
vor ihr auf.
Als junge Frau hatte sie hier mit ihrem Mann gewohnt. Gegen den
Widerstand seiner und ihrer Eltern hatten sie geheiratet. Zunächst waren
sie glücklich. Es änderte sich alles, als sie ihrem Mann einen Sohn
gebar. Zunächst war ihre Freude groß, denn sie hatten schon eine
Tochter, aber:
„Ein Mann braucht einen Erben“. Das war die selbstverständliche Meinung
der Familie.
Schon bald stellte sich heraus, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmte.
Er konnte nicht sehen!
Rinah und ihr Ehemann suchten jeden nur möglichen Heiler auf. Niemand
konnte dem Jungen helfen. Die Enttäuschung war riesengroß. Rinah weinte
Tag und Nacht. Sie saß nur noch am Bettchen ihres Kindes und konnte sich
mit seiner Blindheit nicht abfinden.
Die Familie des Mannes gab Rinah die Schuld.
„Das kommt davon, dass du nicht auf uns hören wolltest. Wer weiß, welche
Krankheiten sie noch eingeschleppt hat.“
Ihr Ehemann stellte sich auf die Seite seiner Familie.
„Das Unglück kommt von dir.“

„Die Sünden der Väter werden sich rächen bis ins vierte Geschlecht.“

Eines Morgens überreichte er ihr den Scheidungsbrief und jagte sie aus
dem Haus.
Durch die Vorwürfe ihres Mannes und seiner Familie glaubte sie
inzwischen selbst, dass sie allein die Schuldige an der Blindheit ihres
Sohnes war.
Es wurde ihr auch verweigert, ihre Kinder mitzunehmen.
Nun stand sie auf der Straße. Wo sollte sie hin? Zu ihrer eigenen
Familie wollte sie nicht zurück, denn ihre Eltern hatten diese Heirat
auch nicht gebilligt. Sie schleppte sich von Ort zu Ort. Manchmal fand
sie Arbeit und eine Unterkunft. Meistens lebte sie auf der Straße und
bettelte.

Rinah erinnerte sich, das hier in der Nähe ein Brunnen sein musste.
Welche Freude, es gab ihn noch! Sie schöpfte und trank und fühlte sich
wunderbar erfrischt.
Eine junge Frau kam daher zum Wasser holen. Konnte sie es wagen, sich
nach ihren Kindern zu erkundigen? Vorsichtig fragte sie. Ihre Angst war
unbegründet, die Frau war freundlich und gab Auskunft. Sie erfuhr, dass
ihre Tochter verheiratet war.
„Gab es da nicht auch einen Sohn?“
„Ja, ich erinnere mich, ich glaube, das ist der stadtbekannte Blinde,
der am Tor sitzt und bettelt. Er wurde von seiner Familie verstoßen. Ist
ihnen nicht gut?“
Es gelang Rinah nur mühsam ihre Erschütterung zu verbergen.
„Danke, es geht schon. Ich bin nur durstig und werde noch etwas
trinken.“
Nachdenklich ging die junge Frau fort.
Rinah setzte sich auf eine Mauer. Sie wollte schleunigst zum Stadttor
gehen um ihren Sohn zu sehen. Die Begegnung mit ihrer Tochter hatte
Zeit. Aber zunächst
musste sie sich beruhigen, denn ihr Herz schlug bis zum Hals.
„Hätte ich damals nur darauf bestanden ihn mitzunehmen!“
Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf.
„Soll ich mich zu erkennen geben? Was weiß er über mich? Vielleicht
hasst er mich. Er war doch noch ein Baby, als ich ihn verlassen
musste.“
Schwer atmend erhob sie sich und ging weiter in Richtung Stadttor.
Bald war sie von einer großen Menschenmenge umringt. Sie hörte die Leute
sagen:
„Jesus ist da. Wir müssen uns beeilen, sonst zieht er weiter.“
Rinah gelang es, sich durch die Menge nach vorne zu schieben.
Da sah sie Jesus neben einem Mann stehen. Sie erschrak, als sie ihn
ansah. Er gleich aufs Haar seinem Vater. Sie hatte keinen Zweifel, es
musste ihr Sohn sein“ Selbst die Art wie er sich bewegte war ihr sehr
vertraut.
Einer der Jünger die Jesus folgten sagte:

„Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind
geboren wurde?“
Jesus antwortete“ „Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern.
Vielmehr sollen die Werke Gottes an ihm offenbar werden.“

Rinah hatte es deutlich gehört. Genau in diesem Augenblick wurde sie von
der schrecklichen Schuld, die so lange auf ihr gelastet hatte,
freigesprochen.
Sie konnte es kaum fassen. Jesus hatte für sie ein ganz persönliches
Wunder gewirkt. Ihr ganzes Leben hatte sie gehofft, dass dieser Albtraum
von ihr genommen würde. Jetzt war es endlich geschehen. Die Anklage war
zunichte gemacht. Sie wollte auf Jesus stürzen um ihm zu danken, aber
dann sah sie gebannt zu, was Jesus da machte.

Jesus spie auf den Boden, machte einen Teig aus dem Speichel, strich ihm
den Teig auf die Augen und sagte zu ihm: „Geh, wasche dich in dem Teiche
Siloach.“

Rinah erschrak. Wie sollte ihr blinder Sohn denn zum Teich kommen?
Jesus sah wie zufällig zu Rinah hin. Sie wusste gleich, was dieser Blick
zu bedeuten hatte. So schnell sie ihre Füße trugen, eilte Rinah zu ihrem
Sohn. Sie nahm ihn beim Arm und führte ihn.
Es strengte sie sehr an und sie war nicht imstande zu sprechen. Am Ufer
angekommen führte Rinah seine Hand in das Wasser des Teiches.
Er wusch sich, wie Jesus es ihm aufgetragen hatte.
Sogleich brach er in Jubel aus:
„Hört alle her: Ich kann sehen, ich kann wirklich sehen!“
Dann lief er ohne sich noch einmal nach Rinah umzusehen eiligen
Schrittes zurück in die Stadt, immer noch laut seine Heilung verkündent.
Rinah sank auf die Knie. Noch nie im Leben war sie so glücklich gewesen.

Sie war dabei, als ihrem Sohn ein zweites Leben geschenkt wurde.
Jetzt musste sie zurück um Jesus zu danken.
Sie war so schwach, dass sie sich kaum aufrichten konnte.
Da erschien ein helles Licht aus den Wolken und ein Strahl reichte genau
bis zu ihr herab. Er hob sie hoch und hüllte sie ein. Sie fühlte sich
leicht und unendlich frei.
Als sie über der Stadt schwebte, galt ihr letzter Blick ihrem Sohn, der
noch immer jubelnd sein Glück hinausrief
.


Regina Hesse



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