Advent / Weihnachten
- Autorenwettbewerb Platz2 -







Ein wundersames Erlebnis


(von Antje von Mahren)






Becky lag in ihrem Bett und konnte nicht einschlafen. Grübelnd wälzte sie sich von einer Seite zur anderen. Was soll ich tun? Was werden sie sagen? Ach, hätte ich doch nicht ...
 
Erschrocken fuhr Becky hoch. Was war das für ein Geräusch gewesen? Verwundert blickte sie sich um. In der Morgendämmerung erkannte sie Bäume und Büsche um sich herum. Die Luft war von fremdartigen Gerüchen erfüllt. „Wo bin ich?“, fragte sie sich verwirrt. Sie zitterte vor Kälte in ihrem schlichten blauen Nachthemd.
Plötzlich legte jemand seine Hand auf ihre Schulter. Becky zuckte zusammen und fuhr herum.
„Keine Angst“, sagte ein junger, bärtiger Mann mit ruhiger Stimme. „Meine Frau und ich dachten nur, dass du vielleicht Hilfe brauchst.“ Fragend und ein wenig neugierig schaute er auf sie herunter.
Unsicher blickte Becky ihn an. Sein Gesicht hatte einen freundlichen Ausdruck, aber konnte sie ihm wirklich trauen? Sie war ganz durcheinander. Zögernd stand sie auf. Durch das Liegen auf dem harten, kalten Boden tat ihr alles weh. Eine dunkelhaarige Frau trat näher und fragte freundlich: „Hast du keinen Mantel?“
Becky schüttelte den Kopf und betrachtete die Frau genauer. Wie jung sie noch war. Eigentlich mehr ein Mädchen. Vielleicht sogar jünger als ich, wunderte Becky sich. Aber offensichtlich schon Ehefrau, und bald würde sie Mutter werden. Becky konnte den runden Bauch unter dem Gewand der Frau erkennen.
Die Frau legte Becky ein großes Stück Stoff um. Becky fand, dass es nicht wie ein Mantel aussah. Sie merkte, dass den beiden noch einige Fragen auf der Zunge lagen, die sie aber – vielleicht aus Höflichkeit? – nicht aussprachen. Bestimmt wunderten sie sich, wieso ein Mädchen hier ganz allein im Wald saß. Im Nachthemd, wie peinlich. Obwohl - wenn sie die  beiden so ansah - hatten ihre Gewänder große Ähnlichkeit mit Beckys Nachthemd.
„Vielen Dank,“ sagte Becky höflich und stellte sich vor: „Ich heiße Rebecca.“
„Wir freuen uns, dich kennen zu lernen. Wir sind Maria und Josef“, antwortete die Frau.
Ihr Mann fügte hinzu: „Wir sind unterwegs nach Bethlehem. Wegen der Volkszählung. Wir sind etwas früher aufgebrochen als die anderen, weil wir langsamer gehen. Vielleicht möchtest du dich unserer Gruppe anschließen?“
Sprachlos starrte Becky die beiden an. Maria und Josef? Bethlehem?? Das kann doch nicht wahr sein! Träume ich? Wie kann das sein? Die Gedanken wirbelten durch Beckys Kopf.
„Ist alles in Ordnung, Rebecca?“, fragte Maria besorgt.
Nein, dachte Becky, nichts ist in Ordnung! Ich gehöre nicht hierher. Nicht an diesen Ort und nicht in diese Zeit. Plötzlich war ihr übel. Hastig eilte sie hinter einen Busch und übergab sich.
Hinterher versicherte sie Maria und Josef, dass es ihr gut gehe und sie sich ihnen anschließen wolle. Was blieb ihr auch sonst übrig?
Sie wanderten los. Die Sonne war inzwischen ganz aufgegangen und es wurde schnell wärmer. Der Weg führte durch den Wald, und es ging etwas bergauf.
Mit Maria und Josef nach Bethlehem! Wow! Becky beschloss, das Beste aus der ganzen Sache zu machen, auch wenn sie nicht verstand, warum und wodurch sie hier war. Aber sie konnte sowieso nichts daran ändern.
Nach ungefähr einer Stunde hatten die anderen aus der Gruppe sie eingeholt. Es waren noch drei Paare, zwei sogar mit Kindern, und einige einzelne Männer. Sie gingen jetzt schneller und Becky konnte Maria ansehen, wie anstrengend diese Wanderung für sie war. Sie selbst hätte auch eine Pause gebrauchen können, denn sie war es nicht gewohnt, so viel zu Fuß zu gehen.
Und da sie kein Frühstück gehabt hatte, war ihr ganz flau im Magen. Aber wenn Maria durchhält, schaffe ich das auch, sagte sie sich und stapfte verbissen weiter.
Endlich machten sie Rast. Becky und Maria setzten sich in den Schatten. Maria bot ihr Feigenkuchen und Gerstenbrot an. Dankbar fing Becky an zu essen.
Sie seufzte wohlig: „Jetzt geht es mir besser. Vielen Dank, Maria, dass du dein Essen mit mir teilst. Es tut mir leid, dass ich gar nichts dazu beisteuern kann.“
Maria schüttelte den Kopf: „Ist doch selbstverständlich. Du bist unser Gast.“ Nach einer kurzen Pause fragte sie zögernd: „Woher kommst du?“
Becky war klar, dass es in Marias Zeit völlig ungewöhnlich war, dass ein Mädchen allein unterwegs war.
Sie seufzte und antwortete: „Ehrlich gesagt, weiß ich selbst nicht, wie ich hierher gekommen bin.“
Bestürzt sah Maria sie an. „Vielleicht bist du überfallen worden und hast das Gedächtnis verloren!“
Becky schüttelte den Kopf: „Ich habe aber keine Verletzungen.“ Ratlos sah Maria sie an. Dann legte sie mitfühlend ihren Arm um Becky und sagte: „Auf jeden Fall kommst du erst mal mit uns mit. Wir sollten Bethlehem heute noch erreichen und wenn wir dort sind, werden wir weiter sehen. Gott wird Rat wissen.“ Becky  musste auf einmal an ihre Situation zuhause denken. Gottes Rat brauchte sie wirklich. Aber würde er ihr helfen, wo sie doch selbst schuld war an ihrer Misere?
„Denkst du, Gott hilft einem Menschen auch dann, wenn er Schuld auf sich geladen hat, Maria?“
„Bereust du deine Schuld denn?“, fragte Maria zurück.
„Ja, und wie!“, rief Becky aus. „Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen.“ Ihr kamen die Tränen und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
„Willst du es mir erzählen?“, fragte Maria behutsam.
Becky nickte, und dann bekannte sie Maria stockend, dass sie schwanger war. Ohne verheiratet zu sein, fügte sie mit rotem Kopf hinzu. Und dass ihre Eltern, die sich stets an Gottes Gebote hielten, entsetzt sein würden, wenn sie es wüssten. Und wenn es in der Gemeinde bekannt würde ...
Es tat gut, einmal mit jemanden darüber sprechen zu können. Maria hörte aufmerksam zu und fragte dann: „Warum heiratet dich der Vater deines Kindes nicht?“
Becky schüttelte verzweifelt den Kopf: „Das will ich doch gar nicht. Jedenfalls jetzt noch nicht. Das verstehst du nicht, Maria. Bei uns ist es nicht üblich mit sechzehn schon zu heiraten. Ich gehe doch noch zur Schule und ich ...“
Becky brach ab und sah Maria hilflos an. Erschrocken warf Maria ein: „Aber was werden sie mit dir tun? Du kannst es irgendwann nicht mehr verheimlichen. Werden Sie dich nicht bestrafen? Vielleicht steinigen Sie dich sogar!“
„Nein“, beruhigte Becky sie. „Das ganz bestimmt nicht. So schlimm ist das bei uns nicht.“ Sie hielt inne und lauschte ihren eigenen Worten nach. Ja, dachte sie, vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie ich dachte. Mir droht keine körperliche Gefahr. Natürlich, ich schäme mich, dass alle von meiner Sünde wissen werden. Ich will gut dastehen, will, dass sie mich für eine gute Christin halten. Es fällt mir schwer, zugeben zu müssen, dass ich Mist gebaut habe. Dass ich nicht so toll bin, wie alle dachten.
„Als ich schwanger wurde“, fing Maria leise an zu erzählen, „waren Josef und ich auch noch nicht verheiratet. Du musst wissen, Rebecca, dass dieses Baby“, Maria strich sich über den Bauch, „etwas ganz besonderes ist. Josef ist nicht der Vater und auch kein anderer Mann.“ Sie sah Becky an und wartete auf eine Reaktion. Becky dachte an ihren Freund Kai und fragte: „Hattest du Angst davor, es ihm zu sagen?“
„Ja, ich wusste nicht, wie er reagieren würde. Ich dachte, dass er vielleicht die Verlobung lösen würde. Wie sollte ich ihm erklären, was passiert war. Ich dachte, er würde mir nicht glauben, dass ich einem Engel begegnet war. Bist du schon mal einem Engel begegnet?“
„Nein“, sagte Becky und dachte: aber ich erlebe gerade auch etwas ganz Unglaubliches.
„Ich hatte Angst davor, was auf mich zukommt. Und nicht nur, was Josef sagt, sondern auch die anderen Leute und meine Familie. Aber trotzdem spürte ich eine Art tiefen Frieden, weil ich wusste, dass alles Gottes Plan war. Ich kann ein verstehen, was du empfindest, auch wenn es bei mir ein wenig anders war.“
„Der Unterschied ist, dass du nichts Falsches getan hast, Maria. Du hast nicht gesündigt. Im Gegenteil, du bist so rein, dass Gott dich für gut genug hielt, die Mutter...“Beinahe hätte sie gesagt „...seines Sohnes zu werden“, aber stattdessen beendete sie den Satz mit „... dieses besonderen Kindes zu werden.“
Maria widersprach: „O nein, ich bin doch nicht besser als jede andere. Wir alle leben von der Gnade und Güte Gottes. Ich weiß nicht, warum der Engel ausgerechnet mich ausgesucht hat.“
In diesem Moment kam eine Frau aus der Reisegruppe zu ihnen: „Wir gehen weiter.“
Sie packten das Bündel und machten sich wieder auf den Weg.
Die Stunden schleppten sich dahin und Maria wurde immer langsamer. Der Abstand zu den anderen wurde immer größer.
Besorgt fragte Becky: „Maria, geht es dir nicht gut?“
Maria blieb stehen und stöhnte: „Das Baby. Ich glaube es kommt bald.“
Hilflos sah Becky sich um. Erleichtert sah sie, dass Josef schon nach ihnen Ausschau hielt.
Gemeinsam redeten sie Maria zu, weiter zu gehen. Sie kamen nur langsam voran. Alle zehn Minuten hielten sie an, weil Maria von Wehen überwältigt wurde. Sie weinte und hatte Angst, dass Kind würde am Straßenrand geboren werden.
Auch Josef schien immer nervöser zu werden, denn es dämmerte bereits. Die anderen waren bestimmt schon in Bethlehem angekommen.
Becky versuchte, den beiden Mut zu machen. Sie wusste, dass das Kind erst in Bethlehem geboren würde.
Doch Maria murmelte immer wieder: „Ich kann nicht mehr.“
Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor bis sie endlich vor sich die Lichter von Bethlehem sahen. Es war bereits dunkel, als sie das erste Haus erreichten. Josef klopfte und fragte nach einer Unterkunft für die Nacht. Das Haus war voll. Genau wie jedes andere, bei dem sie es versuchten. Mist, dachte Becky. Aber dann fiel ihr ein, dass sie das ja gewusst hatte. Sie kannte doch die Geschichte. Beinahe hätte sie das vergessen.
Schließlich bot ihnen jemand eine Höhle an, die sonst als Stall benutzt wurde. Erleichtert machten sie Maria, so gut sie konnten, ein Lager im Stroh. Es war weder besonders warm noch sauber hier. Becky dachte an sterile Krankenhauszimmer, Hebammen, Ärzte, medizinische Geräte, Schmerzmittel. All das gab es hier nicht. Sie hätte nicht mit Maria tauschen wollen.
 
Als das Baby dann geboren war und schreiend im Arm der erschöpften Mutter lag, dachte Becky verwundert, dass es ganz anders gewesen war, als sie sich die Geburt Jesu immer vorgestellt hatte. Gar nicht gemütlich und beschaulich. Es gab Schmerz und Blut, Kälte, Dunkelheit und Schmutz. Aber dann sah sie in Marias strahlende Augen. „Jesus“, flüsterte Maria und sah ihren Sohn liebevoll an.
„Willst du ihn mal halten?“, fragte Maria und hielt Becky das Baby hin. Behutsam nahm Becky ihr Jesus ab, der inzwischen eingeschlafen war. Staunend betrachtete sie sein winziges Gesicht. Einerseits  ein ganz normales Baby, dachte sie, aber andererseits der König aller Könige. Gottes Sohn. Ein Wunder. Welch eine Ehre, dass ich ihn halten darf. Wie unwürdig ich doch bin. Sie dachte wieder an die Schuld, die sie bedrückte.
„Es tut mir leid, Jesus. Vergib mir“, flüsterte sie.
Plötzlich öffneten sich seine Augen und er sah Becky an. Frieden durchströmte sie und Freude. Sie wollte zugleich lachen und weinen, so glücklich war sie auf einmal. Ihr wurde schwindelig und sie schloss die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, war sie zuhause. Ich habe alles nur geträumt, dachte Becky. Sie sah sich im dämmrigen Zimmer um. Alles war genauso wie gestern Abend. Nur ich bin anders, merkte sie. Sie spürte den Frieden in ihrem Herzen. Und sie erkannte voll Staunen: Ich freue mich auf mein Kind!
Was hängt da in meinen Haaren? Becky fasste hin und zog es heraus. Es war Stroh.



Antje von Mahren



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