Advent / Weihnachten
- Autorenwettbewerb Platz4 -







Das Geschenk


(von Karolin Bettge)






Im Gang hatten sie einen Christbaum aufgestellt. Einer der Jungs hatte immer etwas zu meckern, aber gegen den Weihnachtsbaum schien ausnahmsweise keiner etwas einzuwenden zu haben. Es war überhaupt sehr ruhig an diesem Vormittag. Ich legte mich wieder auf meine Pritsche und versuchte die Stille zu genießen. Das war es, was ich am meisten vermisste: allein sein zu können, wann immer ich wollte. Hier hörte man ständig Stimmen. Leute, die noch vor wenigen Monaten Fremde gewesen waren, liefen dauernd um einen herum, quatschten einen an, rissen dreckige Witze oder beobachteten einen. Man konnte nichts dagegen tun. Man war nie alleine aber trotzdem einsam… Irgendwo läuteten Kirchenglocken und dann eine Stimme: Zimmermann, schläfst du noch? Hier ist ein Paket für dich! Ich antwortete nicht, hielt die Augen geschlossen, und wunderte mich, was das für ein Päckchen sein sollte. Hey Zimmermann, bist du taub? Ich stell es hier drinnen ab, okay? Ich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, die Tür aufgeschoben und etwas auf dem Boden abgestellt wurde. Die Tür fiel kurz darauf wieder ins Schloss. Bevor sich die Schritte entfernten noch einmal die Stimme: Heute solltest du einfach mal fröhlich sein, alter Junge. Immerhin ist Weihnachten… na ja, vielleicht sieht man sich ja im Gottesdienst. Als er endlich fort war, öffnete ich die Augen und betrachtete das Paket. M. Zimmermann stand darauf geschrieben. Kein Absender. Ich öffnete es. Marzipan. Lebkuchen. Dominosteine. Spekulatius. Ich stapelte alles auf meinen Schrank. Dann setzte ich mich auf meinen Stuhl und wartete.
 
Was mich veranlasste, zum Gottesdienst zu gehen, weiß ich nicht mehr. Vielleicht tat ich es aus Langeweile, denn mich erreichten selbst an diesem Tag keine Briefe von draußen und auch sonst hatte ich nichts zu tun. Ich suchte mir einen Platz in einer der hinteren Stuhlreihen. Normalerweise standen hier Tische, aber heute hatten sie diese herausgeräumt und den Gemeinschaftsraum zu einer „Kirche“ umfunktioniert. Auf den „Altar“, dem einzig verbliebenen Tisch am Ende des Saales, hatten sie Kerzen gestellt. Vor ein paar Wochen hatte es noch Streit gegeben, weil einer der Jungs einen Adventskranz von seiner Freundin bekommen hatte. Man hatte ihm das Geschenk abgenommen. Kerzen seinen nicht erlaubt, hatte man ihm gesagt. Nachdem er lautstark protestiert hatte, gaben sie ihm den Kranz zurück, aber ohne Kerzen… Vielleicht waren es ja diese Kerzen auf dem Altar, die sie dem armen Burschen entwendet hatten? Langsam füllte sich der Raum. Die Plätze neben mir blieben frei und ich war froh darum. Jemand spielte Klavier. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht einmal gewusst, dass in diesen Mauern so etwas wie ein Piano existierte. Ein paar Mutige sangen halblaut mit, bei den nächsten Liedern kamen einige schüchterne Stimmen hinzu. Dann erzählte der Mann hinter dem „Altar“ die Geschichte von Bethlehem und dem Stern über dem Stall, von der Geburt eines Kindes und den drei Weisen aus dem Morgenland. Der Redner war ein junger, schmächtiger Kerl, jünger als ich, aber seine Stimme füllte den ganzen Raum, war fest und durchdringend. Niemand wagte es, einen Laut von sich zu geben, während er sprach. Alles schwieg und lauschte andächtig der Stimme des jungen Kerls. Schon damals hatte es mich immer in Erstaunen versetzt, wie diese Geschichte die Menschen derart in Verzückung versetzen konnte. Selbst ich blieb nicht ungerührt, auch wenn mir die Worte nichts bedeuteten. Als der Gottesdienst zu Ende ging, strömten die Männer glücklich lächelnd aus dem Saal. Der Duft von frischem Braten drang in meine Nase, denn die Küche war gleich nebenan, und sogleich stellte sich auch bei mir ein seltsames Gefühl der Zufriedenheit ein. Aber es war noch Zeit bis zum Essen. Also beschloss ich einfach zu warten. Ich zuckte zusammen, als ich direkt neben meinem Ohr eine Stimme sagen hörte: Haben Sie heute keinen Besuch? Ich stellte fest, dass es der Prediger war. Einen Moment lang erwog ich, ihn einfach zu ignorieren. Und Sie? Keine Familie, die auf Sie wartet? Stattdessen verbringen Sie Weihnachten mit ein paar Knasties? Seine Reaktion war ein unerwartetes Lachen. Ich bleibe ja nicht den ganzen Abend. Nachher fahre ich nach Hause zu meinen Kindern. Die müssen sich eben ein bisschen länger gedulden mit den Geschenken.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, nickte also nur unsinnig vor mich hin. Haben Sie irgendwelche Wünsche? Ich sah ihn verdutzt an und brummte dann: Nichts, was Sie mir erfüllen könnten. Wieder das freundliche Lachen. Freiheit? Jeder Gefangene wünscht sich Freiheit! Er schmunzelte. Sehen Sie. Dann kann ich Ihnen doch helfen. Aus seiner Tasche zog er ein ledernes Büchlein und reichte es mir. Wie kann mir ein Buch… Er schüttelte energisch den Kopf. Nicht ein Buch, mein Freund. Es ist das Buch. Sieh mal… Er suchte nach Worten. Jesus, dessen Geburt wir heute feiern, ist für dich gestorben. Das weißt du doch oder? Ich zuckte wage die Schultern. Das ist das größte Geschenk, das du heute annehmen musst! Denn wenn du Jesus  annimmst, annimmst, dass er in den Tod gegangen ist, damit du frei wirst von deinen Verfehlungen, dann hast du wahre Freiheit! Natürlich war ich nicht überzeugt: Wissen Sie, weswegen ich hier bin? Nein. Und es spielt auch keine Rolle, denn Jesus liebt dich nicht weniger als mich oder irgendwen. Nur die Entscheidung, ob du diese Liebe, dieses großartige Geschenk anzunehmen bereit bist, liegt bei dir. Ich wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Obwohl das alles so unwirklich klang, berührte es etwas in meinem Innern und ich wollte es festhalten. Bevor er aufstand, sagte er: Lies. Lies gründlich und verschließe dein Herz nicht. Es ist die wichtigste Entscheidung, die du jemals treffen wirst. Das verspreche ich dir. Ich befolgte seinen Rat. Noch am selben Abend fing ich an, in diesem Neuen Testament zu lesen. In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen, las ich und mein Herz begann schneller zu schlagen. Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken, las ich und spürte deutlich, dass ich gemeint war! Von all dem Unbekannten, Guten was ich an jenem Abend las, erschütterten mich die Worte des Simon Petrus am meisten, der auf die Frage Jesu, ob die Jünger sich auch von ihm abwenden wollen antwortet: Herr zu wem sollten wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens, und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist. Als ich diese Worte gelesen hatte, stand meine Entscheidung fest. Zu wem sollte ich gehen? Er, Jesus, hatte Worte des ewigen Lebens für mich! Noch in dieser Nacht kehrte ich um zu Christus. Seitdem bin ich frei.
Als der junge Prediger ein Vierteljahr später, am Ostermorgen, in meine Zelle trat, fragte er: Du sitzt hier so ganz allein? Ich legte mein Testament beiseite und erwiderte das freundliche Lächeln: 
Allein vielleicht. Aber einsam? Nicht mehr. Freudig schloss er mich in seine Arme. Er hatte verstanden.



Karolin Bettge



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