Weihnachten / Advent
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Es folgen die Texte, die bei dem Autorenwettbewerb zum Thema
"Advent & Weihnachten" von insgesamt über 100 Texten in die engere Wahl kamen.
(in zufälliger Reihenfolge)




Sonnenlicht





Es war einmal – noch nicht lang her –
da stand das Licht am Himmelszelt.
Die Sonne strahlte – hell und sehr
auf jene kleine blaue Welt.

Die Zeit verging – die Sonne auch,
es wurde dunkler, kälter, Eis!
Und Wolken nahmen ihren Lauf,
verdeckten alles – neblig weiß.

Schwaden aus des Todes Hauch,
Kriegsgeflüster – Feuersbrunst!
Frieden ohne Unterbau,
bringt des schwarzen Pulvers Dunst.
Feuerbälle fallen heulend
auf die Erde, treffen tief.
Menschen, die sich nieder keulen –
die Schöpfungskrone – sie sitzt schief.
Es sitzt genau auf Messers Schneide
jener Schöpfung’ Menschenskind!
So schiebt es Gott sehr schnell beiseite,
und quält bald Esel, Schaf und Rind.
Keine Skrupel mehr vorhanden,
Menschen schöpfen aus dem Vollen!
Bande, die uns einst verbanden,
die wir nicht mehr sehen wollen.

Es ist Weihnacht – liebe Menschen!
Jesus ist geboren heut!
Herr und Heiland – lasst gedenken –
jener Hochglückseeligkeit!
Zündet Kerzen – liebe Freunde
freudig an in jedem Haus!
Lasst uns tun, was Jesus meinte,
als er brach das Brot zu Haus.
Esset und trinket alle davon –
so sprach der Heiland bei dem Mahl.
Brot und Wein – man ahnt es schon
in ihm steckt Segens Überzahl.
Sucht nicht nach Gott, sucht nicht nach Jesus,
zweifelt nicht an Existenz!
Blickt auf die Schöpfung, wo man sehn muss
nur Gottes Werk und sein Talent!
Kommt lasst uns zünden viele Kerzen
gegen jede Bombenfracht,
die Flamme brennt in unsren Herzen,
gegen der Zeiten Mitternacht.
Und gegen jeden Mord und Todschlag,
jede Ungerechtigkeit,
gegen jeden feigen Anschlag
jede Unglückseeligkeit,
jeden Nichtrespekt an Schöpfung
vor des Gottes Angesicht!

Und so keimen Licht und Hoffnung,
Liebe, Glück und Zuversicht.

Heute ist geborn der Heiland,
in der Krippe Bethlehems.
Lasst gedenken, lasst uns feiern,
dunklen Tagen widerstehen!

Und so bringen unsre Kerzen
Licht in tiefste Dunkelheit.
Öffnet alle eure Herzen!
Dort ist Gott – zu jeder Zeit!

Torsten Jäger






Gelobtes Land

Dezember in Israel. Unser Weg führte uns in Klöster, in Kirchen und Moscheen. Zeugnisse uralter Tradition und Kultur überall. Trotz all dieser Kulturschätze, trotz der unüberschaubaren Zahl der frommen Symbole blieb ein tiefes Unbehagen, das sich aus dem Eindruck einer heil-losen Zersplitterung nährte. Das Gefühl von Ahnungslosigkeit, von Verwirrung und tiefem Weh legte sich wie ein betäubender Schleier über all das Gold, die Weihrauchschwaden und das Licht der ungezählten Kerzen.
Es war eine Art Heimweh, ein Weh nach Gott.
Was ist das für ein Land, in dem Gott den Menschen näher zu sein scheint als an anderen Orten? Aber gleichsam wie zum Spott entzieht er sich auch wieder, indem er seine Weisheiten in tausenderlei Sprachen verkündet, sie aufsplittert in den unendlichen Variationen eines Kaleidoskops aus Kulturen und Traditionen, von denen uns vieles fremd, wenn nicht sogar bedrohlich oder lächerlich erscheint.
So wurde Gottesweisheit in diesem Land in viele Bruchstücke zersplittert und es gelingt den Menschen dort noch weniger als anderswo diese Splitter wieder zusammenzufügen. So spiegeln die Splitter nur die menschliche Zerrissenheit wider. So wurde Religion auf dieser Erde nicht zum Band, sondern zum Fluch.

Weihnachten verbrachte ich in einem Ferienort. Es war die Zeit der verriegelten Basare, der Bombendrohungen, der düsteren Blicke und auf den Strassen flogen täglich Steine gegen Häuser und gegen gepanzerte Fahrzeuge. Steine flogen nicht gegen Menschen. Auf Menschen wurde geschossen.
Weihnachten war zu einem verbotenen Fest geworden. Um nicht die religiös motivierten Unruhen noch weiter anzustacheln, hatte man kurzerhand das Fest aus dem öffentlichen Leben verbannt. Die Festbeleuchtung über den Prachtstrassen schaukelte ungesehen im schneidenden Nordwind. Niemand ging aus dem Haus um sich am Lichterglanz zu erfreuen. Am Weihnachtsabend blieb ich in der Jugendherberge. Im Nebenzimmer feierten junge Soldaten ausgelassen den Geburtstag eines Kameraden. Ich hörte die lärmende, verzweifelte Fröhlichkeit von jungen Menschen, die um die Zerbrechlichkeit des Lebens wissen. Die dieses Wissen aber für einmal vergessen wollten.
Mein Herz schmerzte.
Ich wurde krank. Heimwehkrank.
Heimweh aus mancherlei Ursache.

Tage später.
Ich stand in der Wüste. Wüstes Land, aber nicht verwüstet wie nach einem Krieg, sondern eine karge Ordnung, ein Minimum an bedürfnisloser Gestaltung ohne Anspruch auf Beachtung oder Ewigkeit – und gerade in dieser Einfachheit unvergänglich und schön. Seit Anbeginn. So etwa könnte die Welt gewesen sein am dritten oder vierten Schöpfungstag.
Selten einmal ein Vogelruf, der die Stille durchbricht.
Stille.
Allumfassende Stille.
In der Natur.
Im Kopf.
Im Herzen.
Aus der Erfahrung dieser Stille wächst die Ahnung, dass hier das Land ist, wo sich Gott dem Menschen leise nähert. Ihm nahe kommt.
Im Land der Stille.
Der Wind wird hier zum Flügelschlag der Engel, die ihn begleiten.
Vergebens aber lausche ich auf Worte.
Kein Dornbusch brennt. Und ich behalte die Schuhe an den Füssen.
Da sind keine Worte.
Aber da ist ein Atmen.
Das Atmen der Weltseele, die sich nach Erlösung sehnt.
Eine Erlösung, für die sich die Wesen dieser Welt abstrampeln, für die geopfert, gesungen, gefeilscht, gestritten und gekämpft wird – aber viel zu selten gebetet.
Sehnsucht, die sich im bewussten und unbewussten Weltgewimmel äußert, ohne je spürbar zu werden.
Ich lasse die Stille in mir zu. Ich spüre.
Ganz in der Tiefe, ganz nah und ganz weit weg von mir, da trifft sich diese milliardenfache Sehnsucht mit der Sehnsucht des Schöpfers.
Ich ahne, dass auch Gott sich nach den Menschen sehnt und dass die Vielfalt seiner Sprachen nicht Zerrissenheit ist, nicht Spott über unser Unvermögen. Seine Vielfalt ist Ausdruck seiner tiefen Sehnsucht uns nahe zu sein.
Wir sind Gottes Ebenbild, in tiefer Sehnsucht sind wir ihm am nächsten.

Leider durchbrach das Wort die Stille, die diese Nähe schuf.
Die Gewissheit verdrängte die Ahnung.
Und indem ich euch jetzt davon erzähle wird auch aus dieser Erfahrung nur eines der vielen Bruchstücke, die ich dem großen Verwirrspiel hinzufüge. Redliches Bemühen kann ich euch bieten, nicht mehr.

Damals in der Wüste jedoch, erlebte ich mein eigentliches Weihnachten.


Ulrike Blatter




Weihnachtspur



Hast du Lust mich zu begleiten
durch die Tage im Advent,
die sich schmückend vorbereiten,
dass man Weihnacht’ noch erkennt?

Schau, die blinkend bunten Lichter,
stolz sie Straßen dekorier’n,
auch die eiligen Gesichter,
die im Tempo fast erfrier’n,

unsre Stadt, voll herben Düften,
Abgas, Alkohol und Zimt,
die mit winterlichen Lüften
Weihnachtzeitgefühl bestimmt.

Herzen schlagen im Gemenge
von Profit und Wohlstandswahn.
Gilt die Spur der Weihnachtsklänge
als verwischt und abgetan?

Wie es scheint, ging längst verloren
Weihnachtsinn in unsrer Zeit.
Gottes Sohn wurd’ einst geboren,
der zum Sterben war bereit.

Ohne Reichtum, Geld und Ruhme,
zu erlösen war sein Ziel.
Doch beim Mensch’ und dem Konsume
lebt er nur im Krippenspiel.


Anette Esposito




Der seltsame Gast


Vom Sehen kannte ich ihn schon lange. Diesen zerlumpten Menschen, der mit einer Heerschar von Plastiktüten und einer grotesken Kopfbedeckung die Vororte der Großstadt unsicher machte mit dem Ziel, von dem einen oder anderen etwas zu Essen oder ein bißchen Geld zu bekommen. Warum er sich gerade meine Gegend ausgesucht hatte, in diesem Dezember, wenige Tage vor Weihnachten, war mir unverständlich. Denn meine Nachbarn, allesamt gut betucht, wie man es so schön nennt, waren zum Großteil durch hohe Zäune, Kameras und Hunde von der Außenwelt abgeschirmt und dachten nicht im Geringsten daran, daß ein Mitmensch vor ihrer Tür frierend ihre Hilfe anrufen könnte.

Mitmensch. An diesem Dezembertag, es hatte von früh an geschneit, so daß ich, in der Dämmerung von der Arbeit heimkommend, kaum den Weg erkennen konnte, da fand ich meinen Freund vor einer Laterne stehend seine Tüten bestaunen. Offenbar war es ihm doch gelungen, irgendwo etwas zu erbetteln, denn sein Gesicht, von einem zerzausten Bart überwuchert, strahlte Heiterkeit aus. Es schien so anders als sonst, geradezu freundlich, daß ich, der ich sonst Gespräche mit solchen Personen vermied, ihn kurzerhand fragte: „Was machen Sie eigentlich zu Weihnachten?“ Der Angesprochene zuckte zusammen. Alle Heiterkeit war mit einem Mal verflogen. Statt dessen hörte ich ihn ein paar unverständliche Worte murmeln, es klang wie das Knurren eines in die Enge getriebenen Tieres. Von dieser heftigen Reaktion erschreckt, beschloß ich weiterzulaufen. Doch kaum hatte ich ein paar Meter zurückgelegt, hörte ich ihn mir hinterherrufen: „Dummkopf! Dummkopf!“ Ich drehte mich um und sah, wie er auf mich zeigte und sich dabei vor Lachen den Bauch hielt. „Dummkopf! Dummkopf!“ Ich war nicht gerade begeistert. Soll er doch zusehen, dachte ich grimmig, soll er sich doch selbst der Nächste sein, ich hatte es doch nur gut gemeint.

Ich schritt trotzig meines Weges, ohne mich noch einmal umzuschauen. Am nächsten Abend, es war der 22. Dezember, stiefelte ich wieder die gewohnte Route entlang und sah auch meinen seltsamen Freund wieder an der Laterne stehen. Als ich näherkam, hörte ich ihn leise kichern, schließlich verstellte er mir den Weg, so daß ich seine Augen im Schein der Lampe deutlich sehen konnte. „Dummheit, so etwas zu fragen“, krächzte er. Ich hatte wenig Lust auf einen Disput, schob ihn sanft beiseite und ging meines Weges. Meine Gedanken aber gingen den ihren. Hatte er nicht Recht? War es nicht wirklich eine törichte Frage gewesen, und warum hatte ich sie überhaupt gestellt? Eine Einladung wollte ich ihm doch bestimmt nicht aussprechen. Ein Penner in unserer Wohnung, der Gestank, und erst der Schmutz auf den teuren Polstern und kostbaren Teppichen, meine Frau würde nicht gerade begeistert sein. Zu Hause angekommen, erwähnte ich ihr gegenüber die Begegnung mit keinem Wort. Doch der Gedanke, irgend etwas mit diesem eigentümlichen Menschen anfangen zu wollen, ließ mich nicht mehr los.

Am 23. morgens verspätete ich mich zur Arbeit. Der Zug war schon abgefahren, der Blumenverkäufer zuckte mitleidig die Achseln, da sah ich ihn wieder. Er stand, heute ein Fahrrad an seiner Seite, auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig und schaute in den verschneiten Himmel. Ich schämte mich. Vielleicht, weil jetzt Tag war und ich mich nicht verbergen konnte. Doch in den Bahnhof zu gehen, um dort vor eventuellen Unannehmlichkeiten Schutz zu suchen, wollte mir auch nicht einfallen. Würde er wieder lachen? Ich guckte hinüber. Er sah mich nicht. Statt dessen hörte ich, wie er auf einmal eine Melodie zu singen begann, es war ein altes Kirchenlied von Bach, „Ich steh´an deiner Krippen hier“. Es berührte mich seltsam. Erinnerte er sich seiner Kindheit? Heiligabend, dachte ich bei mir, war allen Menschen, ob arm oder reich, ein befangenes Erlebnis, denn es hatte gleichzeitig mit Gott und Zuhause zu tun. Meine Geschwister und ich hatten es immer geliebt, dieses Fest, zu dem auch dieses Lied gesungen wurde. Aber es war immer eine exklusive Veranstaltung gewesen, zu der meine Eltern nicht einmal nahestehende Verwandte einluden. Weihnachten war eben ein Fest nur für uns, nicht für die anderen.

Am nächsten Tag, es war der 24., paßte ich meine Frau ab, die gerade dabei war, zu den letzten Besorgungen aufzubrechen. „Sei so lieb“, sagte ich ihr, „und kauf´ heute etwas mehr ein, es kommt jemand zu Besuch.“ „Wie, hast du jemanden eingeladen?“ fragte sie mit irritiertem Gesichtsausdruck. „Einen Bekannten“, gab ich gespielt gleichgültig zurück, „er hat niemanden zum feiern.“ Meine Frau guckte mich mit großen Augen an. Glücklicherweise aber drang sie sie nicht weiter in mich, sondern nickte nur und verschwand aus der Tür. Am Nachmittag streifte ich allein durch die verschneite Umgebung und suchte meinen Freund. Er war jedoch weder am Bahnhofsvorplatz noch an der Laterne zu finden, und ich befürchtete schon, er hätte sich ein anderes Quartier für diesen Tag gesucht. Die Zeit drängte, meine Frau und ich wollten in einer halben Stunde zur Kirche gehen, es blieb also nur wenig Zeit. Am Rande des Parks, auf einer Bank sitzend, fand ich ihn endlich. Er sah irgendwie verstört aus, und es kostete mich schon einige Überwindung, mein Vorhaben umzusetzen. „Was machen Sie heute Abend?“ fragte ich schließlich. Als er nicht antwortete, fügte ich, etwas beherzter, hinzu: „Wollen Sie nicht mit zu uns kommen?“ Er starrte mich verwundert an. „Zu Ihnen?“ „Ja“, antwortete ich, „zu meiner Frau und mir. Es würde uns sehr freuen.“

Er kam tatsächlich mit. Unterwegs wechselten wir kein Wort, sondern schauten beide in die weihnachtlich beleuchteten Fenster, wobei hier und da ein Kind erschien und glückselig in die Dunkelheit hinausspähte. Es würde bald Bescherung geben. Vor unserem Haus angekommen, erhielt ich die meine. Mein Freund blieb wie angewurzelt stehen und fragte mürrisch: "„Was wollen Sie eigentlich mit mir?" Er guckte mich dabei derart herausfordernd an, daß ich schon bereute, ihn mitgenommen zu haben. Im letzten Augenblick aber entsann ich mich der Szene auf dem Bahnhofsvorplatz und entgegnete ruhig: „Singen.“ Er antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf. Aber er folgte mir tapfer die Treppe hinauf zu unserer Tür, hinter der eine ihm unbekannte Welt ihn willkommen heißen sollte. War es nicht verrückt, ging es mir durch den Kopf, als ich den Schlüssel im Schloß drehte, war es nicht irrsinnig, einen solchen Menschen in unsere vermeintlich heile Welt zu lassen? Und was würde meine Frau, die Hüterin derselben, dazu sagen? Dieser ungewaschene Kerl, noch dazu in Lumpen, sie würde mir ganz sicher Vorwürfe machen.

Wir betraten den Flur. Meine Frau kam auch gleich herbeigelaufen, sagte jedoch merkwürdigerweise nichts. Sie starrte nur eine Weile den ungebeten Gast an, hob dann den Finger, als in der Ferne Glockengeläut hörbar wurde. Ich nickte. Es war höchste Zeit. Gemeinsam gingen wir zum Gottesdienst, der an diesem Abend besonders feierlich war. Bis zum letzten Platz war die kleine Kirche besetzt, es waren viele elegant gekleidete Männer und Frauen gekommen, Kinder waren auch reichlich da. Als ich sie alle so sitzen sah, der betulichen Rede des Pfarres lauschend, war ich mir sicher, daß ich recht getan hatte. Weihnachten war kein Fest nur für uns allein, es war Gottes Botschaft, der Mensch möge sich mit Seinesgleichen zusammentun und gemeinsam die Geburt des Heilands begehen, ganz gleich, ob arm oder reich. Waren in Betlehem nicht auch die einfachen Schäfersleute mit den Heiligen Drei Königen einträchtig vor der Krippe gesessen, um das Christkind anzubeten?

Zu Hause gestalteten sich die Dinge nicht ganz so einfach. Dort waren wir ja mit uns allein und mußten versuchen, das Beste aus dem Abend zu machen. Daß ausgerechnet unser Gast dazu beitrug, indem er nach dem Essen das erste Lied anstimmte, scheint mir heute geradezu wie ein Wunder. Aber es brach das Eis, auch zwischen meiner Frau und ihm, und gemeinsam sangen wir „Ich steh´an deiner Krippen hier“, und bald auch die anderen Weihnachtslieder, die uns allen aus unserer Kindheit wohl vertraut waren. Der Abend endete, ohne daß wir ein Wort über unser sonstiges Leben gewechselt hätten, es war auch gar nicht nötig, denn die Musik strömte eine ganz eigene Geborgenheit aus, die nicht nach Alltag fragte.


Unser Gast übernachtete bei uns. Zumindest versuchte er es, wir hatten ihm eigens das Schlafsofa zurecht gemacht, doch mußte er das Haus in den frühen Morgenstunden verlassen haben. An der Eingangstür lehnte eine seiner unzähligen Tüten, darin ein Engel aus Schokolade. War es ein Dankeschön? Ich weiß es nicht, vielleicht hatte er seine Habe nur vergessen. In den folgenden Tagen sah ich ihn nicht mehr, er war weder am Park,noch an der Laterne oder am Bahnhofsvorplatz zu finden, vielleicht hatte er sich eine neue Umgebung gesucht. Was immer er auch tut, ich wünsche ihm Gottes Segen. Denn er hat uns an jenem Abend geholfen, zur eigentlichen Bedeutung der Weihnachtsfestes zurückzufinden, und ich bin ihm noch heute dankbar dafür.


Andreas von Klewitz






Weihnachten? Ein Skandal!

 

Ein Klischeebruch! Eine Revolution! Eine Infragestellung jeder bis dahin gängigen Weltanschauung:

Gott wird Mensch. Wird Baby! Und er kommt mit einer riesigen Hypothek auf die Welt. Er, Jesus, ist ein uneheliches Kind. Ein Skandal! Sein Geburtsort ist ein Stall. Ein notdürftiger Schutz vor Schaulustigen. Eine Höhle für Ziegen und Schafe. Es riecht nach Kot. Zecken krabbeln über das zertretene Stroh. Überall sitzen Schmeißfliegen. Den größten Anklang findet er bei armen Hirten und heidnischen Sterndeutern. Seine Geburt ist der Auslöser eines schrecklichen Massakers. Wegen ihm lässt Herodes alle Jungen unter zwei Jahren in Bethlehem und Umgebung töten. Jeder normale Mensch würde mit solch einem Start ins Leben unter Schuldkomplexen zerbrechen.

Jesus wartet. Er wartet auf seine Zeit. Dann, etwa im Alter von 30 Jahren, beruft er zwölf Jünger und zieht als Lehrer mit ihnen durchs Land. Es ist üblich, dass solche Rabbiner auch mindestens einen schwierigen Mann aufnehmen, um an diesem ihre Langmut zu beweisen, denn mit 12 smarten Jungs kann jeder. Bei Jesus ist es Judas Ischariot. Ein Zelot. Ein Extremist. Eine zutiefst gespaltene Persönlichkeit. Mal ist er von Jesus fasziniert. Mal bestiehlt er ihn.

Jesus heilt. Er macht Blinde sehend, Lahme gehend, Tote wieder lebendig. Die religiösen Führer wollen ihn ermorden. Die letzte Person, die ihn küsst, bringt ihm den Tod. Jesus wird verurteilt. Es erwartet ihn die schlimmste aller Hinrichtungsarten: die Kreuzigung.

Aber Jesus hat auch einen göttlichen Auftrag. Ja, er soll sterben. Aber für alle. Er, der einzige Mensch, der jemals ohne Sünde blieb, soll die Strafe für alle anderen auf sich nehmen.

Jesus liebt sein Leben. Er liebt seine Jünger, mit denen er so vieles erlebt hat. Er liebt Gott und er hat Angst. Selbst er hat schreckliche Angst vor diesem einen Moment der Ablehnung. Wenn ihn die Sünde der Welt derart entstellt, dass ihn nicht einmal mehr sein eigener Vater noch anzusehen vermag. Im höchsten Grad der Hingabe und Selbstaufopferung erwartet ihn das höchste Maß an Verlassenheit. Und dennoch, er gehorcht. Er stellt die Brücke zu Gott wieder her. Es kostet ihn alles. Sein ganzes Leben, seine ganze Mission gipfelt in diesem einen Satz: Es ist vollbracht!

Er stirbt. Verflucht ist, wer am Holze hängt (5. Mose 21,23)! Er stirbt und geht, wie er gekommen ist. Als Bruch aller Klischees.

Und dann kommt das Wunder. Nichts hat sich verändert und doch alles. Er steht auf von den Toten. Er lebt. Er hat Sünde und Tod überwunden. Nicht für sich. Nein, für dich! Er geht zurück zu seinem Vater und sagt: Folge mir nach!


Matthias Unshelm





Der Erwartete



Nachdem er die Reste der Tür zugeschoben hatte, so gut es eben möglich war, trat er ins Innere der erbärmlichen Hütte, in der sie nach der langen Reise Unterschlupf gefunden hatten. Er hockte sich neben seiner jungen Frau nieder und legte den Arm um ihre Schultern. „Immer noch nichts?“ fragte er leise. Sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf, der an einem Balken lehnte. Trotz der Erschöpfung wirkte sie ganz gelassen, dabei war es ihr erstes Kind, und sie hatten keine Frau auftreiben können, die ihr half. „Heute Nacht ist es soweit“. Sie hatte es ausgesprochen wie eine unumstößliche Tatsache. Nein, Wehen hatte sie nicht, trotzdem duldete sie nach wie vor keinen Widerspruch. Er wusste nicht, warum, aber er nahm sie in ihrer Bestimmtheit ernst, und er wurde immer unruhiger dabei.
Voller Unbehagen dachte er an den nächsten Tag. Er würde sie allein lassen müssen, und der Befehl des Kaisers nahm sicher viele Stunden in Anspruch. Ihm wäre wohler, wenn sie dann schon alles überstanden hätte. „Spürst du schon was?“ fragte er abermals. „Mach dir keine Sorgen, mein Sohn wird noch vor Mitternacht geboren sein“. Er wollte eine spöttische Bemerkung machen, aber ein Blick in ihr zartes Gesicht verschloss ihm den Mund. Schweigend wandte er sich ab. Von Kindheit an hatte er mitbekommen, was Frauen durchmachten, wenn sie Kinder bekamen. Manchmal dauerte es Stunden, manchmal Tage. Wie kam sie nur dazu zu glauben, dass es bei ihr anders sein sollte. Er richtete sich auf und sah sie an. Im trüben Licht der kleinen Laterne wirkte ihr Gesicht wie aus Elfenbein geschnitzt. Weder Angst noch Schmerz, nicht einmal eine Spur von Ungeduld war darin zu erkennen. Er versuchte, sich einzureden, dass sie sich geirrt hatte. Vielleicht kam es ja doch erst morgen oder in der nächsten Nacht, aber seine Unruhe wuchs, und er begann, sich darüber zu ärgern. Wozu machte er sich überhaupt Sorgen? Es war ja nicht einmal sein Kind. Er hätte das Recht gehabt, sie zu verstoßen. Eine haarsträubende Geschichte hatte sie ihm aufgetischt. Die ganze Wut brach wieder auf. Warum nur hatte er sich auf sie eingelassen! Er hätte allein reisen können und wäre wahrscheinlich bereits wieder auf dem Heimweg.
„Wenn du das Kind heute noch im Arm halten willst, musst du aber mal langsam anfangen“, fauchte er angriffslustig. „Es hat noch Zeit“, antwortete sie freundlich, ohne auf seinen gereizten Ton einzugehen. Er stand auf und begann, mit langen Schritten den kleinen Raum zu durchmessen, wobei er die Ziegen aufschreckte, die hier wohl zu Hause waren und sich nun ängstlich an der Rückwand zusammendrängten. „Was ist denn nun, es ist kaum mehr eine Stunde bis Mitternacht“. „Leg dich schlafen, Lieber, ich wecke dich, wenn mein Sohn da ist“. Schlafen, das wurde ja immer schöner. „Ja glaubst du vielleicht, das Kind fällt einfach so vom Himmel?“ Er schrie es fast. „Dann wäre ich nicht gebraucht worden“, antwortete sie und strich zärtlich über ihren Bauch. Wie konnte sie nur so sicher sein. Hatte sie wirklich keine Ahnung, was ihr bevorstand? Wütend zerrte er das Türfragment auf und trat hinaus, um sich in der kalten Nachtluft abzukühlen, doch blieb er nach wenigen Schritten wie angewurzelt stehen. Eine unvorstellbare Spannung lauerte in der Dunkelheit. Sie war da, war mit Händen zu greifen, mit jeder Faser zu spüren. Er fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Der Himmel selbst schien zu warten. Es war, als säße etwas hinter seiner Schwärze, etwas unfassbar Großes, das genauso um Geduld bemüht war wie er selbst. Die gewöhnlichen Nachtgeräusche waren verstummt. Kein Schaf blökte, kein Hund bellte, kein Blättchen raschelte in den spärlichen Büschen - selbst der Wind schien in seiner Bewegung innezuhalten. Obgleich es sehr dunkel war, schimmerte und flirrte die Luft, aufgeladen wie vor einem Gewitter, und als er sich umdrehte, erblickte er den Kometen, der direkt über dem armseligen Verschlag zu stehen schien. Er hielt den Atem an, und mit ihm die ganze Welt. Die Stille lastete bleiern auf seinen Schultern.

Er nahm nicht wahr, wie lange er so stand. Nach seinem Empfinden konnten es Stunden sein oder nur Sekunden, doch dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Der Himmel riss auf, es wurde taghell. Er glaubte Jubel, Gesang und überirdische Musik zu hören, und von drinnen rief seine Frau nach ihm. Wie betäubt trat er ein. Sie hielt den neugeborenen Jungen im Arm und wickelte ihn in Windeln. Er ließ sich auf die Knie sinken, umfasste mit seinen groben Zimmermannshänden vorsichtig die Füßchen des Kindes und küsste sie. „Maria“, sagte er leise und strich ihr sanft über das Haar.

 

Beate Ullrich



Nur Ochs und Esel


„Sollen wir das jetzt etwa essen?", fragte der Ochse und starrte mit müden Augen auf die Krippe herab, in der jetzt ein kleines Menschenkind lag. Erst hatten ihn die Schreie der Frau wachgehalten, dann das Schreien des Neugeborenen und selbst als der ganze Trubel der Geburt ausgestanden war, kam der kleine Stall nicht zur Ruhe. Ständig trafen irgendwelche Leute ein, um einen Blick auf das Kind zu werfen… und er war doch so müde.
„Nein, das sollen wir nicht essen. Würde uns auch gar nicht schmecken. Aber die Leute da sind arm und sie können sich keinen besseren Platz leisten, an dem sie ihr Kind zur Welt bringen können.", antwortete der Esel, der neben dem Ochsen im Stall stand.
„Warum machen sie es dann nicht draußen wie wir und alle anderen?"
„Weil es schwache Geschöpfe sind. Schau sie dir an, sie haben noch nicht einmal ein Fell, das sie vor der Kälte schützen könnte, deswegen hüllen sie sich in diese Laken."
„Stimmt.", brummte der Ochse. „Sie können noch nicht einmal alleine einen Pflug ziehen. Aber die Gerte und die Peitsche schwingen, das können sie! Ob aus dem da auch ein Peitschenschwinger wird?"
Der Esel schüttelte unentschlossen den Kopf.
„Ich verstehe das auch nicht. Einerseits sind die beiden hier in den Stall gekommen, um ihr Kind zu bekommen und ihre Kleidung ist alt und geflickt, aber trotzdem kommen all diese Leute und einige haben sogar Geschenke dabei."
„Ich habe nie verstanden, warum die Menschen tun, was sie tun. Lass sie doch einfach. Morgen sind sie bestimmt wieder verschwunden."
Der Esel war anderer Meinung. Er war ein neugieriges Tier und freute sich immer, wenn er etwas Neues lernen konnte, aber das hier schien etwas Besonderes zu sein.
Er hatte schon mehrmals die Geburt eines Menschenkindes gesehen und es hatte einiges für sich gehabt. Menschenkinder fielen nicht aus dem Schoß der Mutter direkt auf den Boden, nein sie wurden von warmen Händen empfangen und behütet. Trotzdem fingen sie meist auf der Stelle an zu plärren und hörten erst nach vielen Jahren auf.
Auch dieser Junge hatte geschrieen, aber in den Augen seiner Eltern hatte mehr gelegen als nur die durchgestandene Anstrengung und der Stolz auf den gesunden Nachwuchs. Sie hatten sich angesehen und ihre Augen hatten gesagt: „Was soll nun nur werden?"
Und dann waren die Hirten gekommen. Hier am Rand von Bethlehem gab es eine ganze Menge von ihnen. Alte Männer, die ihr ganzes Leben unter freiem Himmel zugebracht hatten und junge Männer, die immer auf der Ausschau nach einem Schäferstündchen mit einer Wäscherin oder einer Erntemagd waren. Aber es gab auch Frauen unter den Hirten, die meisten von ihnen junge Mädchen aus armen Familien, die sich keine eigenen Tiere leisten konnten und mit etwas Milch und wenn sie Glück hatten verfilzter Wolle für ihre Hütedienste bezahlt wurden.
Aber aus irgend einem Grund waren die lebenslustigen Männer und Freuen heute ruhiger als sonst. Fast ehrfürchtig näherten sie sich der Krippe, um einen Blick hineinzuwerfen und nach einigen stillen Augenblicken gingen sie wieder nach draußen, wobei sie den Eltern ein paar Worte zuflüsterten.
„Möchte mal wissen, was es da zu sehen gibt. Sieht für mich aus, wie ein ganz normales Kind.", hatte der Ochse gemurrt und an dem Kleinen geschnuppert. „Er stinkt! Wir werden den Geruch nie wieder aus unserer Krippe bekommen!"
„Sei nicht so mürrisch, alter Freund.", hatte der Esel erwidert. „Wann erlebt man denn schon so etwas?"
„Ich werde mir einfach vorstellen, dass sie wegen mir gekommen sind.", sagte der Ochse. „Weißt du ich habe gehört, dass es Gegenden gibt, in denen man uns Rinder wie Götter verehrt und uns sogar goldene Statuen aufstellt."
Der Esel warf dem Ochsen einen scheelen Blick zu und sagte: „So etwas dummes habe ich ja noch nie gehört!"
Aber der Ochse ließ sich davon nicht beirren und neigte bei jedem Hirten leicht das Haupt, als würde er sich gnädig für dessen Besuch bedanken.
Mit der Zeit war die Menge der Hirten auf mehr als zwei Dutzend angewachsen und sie hatten angefangen zu singen. Kurzzeitig hatte sich auch der Vater des Kindes zu ihnen gesellt, offenbar um sich zu bedanken und ein paar Worte zu sagen, dann war er zu seiner Frau zurückgekehrt, die sehr schwach war. Sie hatte das Kind nicht lange in ihren Armen halten können, bevor sie erschöpft eingeschlafen war und der Vater die Krippe leergeräumt und mit frischem Heu ausgepolstert hatte. Dem Ochsen, der eigentlich immer hungrig war, war das Wasser im Mund zusammengelaufen, aber der kräftige Mann hatte unmissverständlich klar gemacht, dass selbst das kleinste Hälmchen an seinem Platz zu bleiben hatte. Und die beiden Tiere hatten sich daran gehalten.
Die Hirten schienen auf etwas zu warten und auch der Esel spürte eine Unruhe in sich, die er nicht erklären konnte. Vielleicht lag es ja an dem klaren Sternenhimmel und dem einzelnen hell leuchtenden Stern, der genau über ihnen zu stehen schien. Der Esel wusste immer, wenn sich am Firmament etwas tat und er kannte die Position von allen Sternen. Er konnte mit diesem Wissen zwar nicht viel anfangen, denn er verirrte sich nie und wusste auch so wie spät es war, aber die Lichter am Himmel gefielen ihm. Der Ochse hatte ihn immer dafür verspottet. „Wenn dir der Bauer eins mit dem Stock über den Kopf gibt, dann siehst du auch Sterne.", hatte er gesagt.
Es dauerte nicht lange, und in die Gruppe der Hirten kam erneut Bewegung. Sie standen auf, um jemanden durchzulassen und respektvoll zu begrüßen, der gerade angekommen war. Drei Männer betraten den Stall. Sie schienen von weit her zu sein, denn sie trugen fremdländische Kleidung und die Sprache in der sie sich untereinander unterhielten klang fremd und geheimnisvoll. Und sie hatten Geschenke mitgebracht. Es duftete nach Myrrhe und sorgsam zusammengestelltem Weihrauch aus seltenen Harzen und Kräutern. Der Esel kannte die Vorliebe der Menschen für duftende Essenzen und sie hatten es auch bitter nötig. Manch einer von ihnen roch schlimmer als zehn Schweine zusammen.
Aber diese drei Männer rochen gut. Sie rochen nach Tabak und Mokka, nach Datteln und süßem Wein. Der Esel streckte den Neuankömmlingen verzückt die Nase entgegen und selbst der Ochse schnupperte eine Weile, bevor er weiter an seinem Stroh wiederkäute.
Die drei Männer ließen sich lange Zeit das Kind zu betrachten und ihren Segen über es zu sprechen, dann wandten sie sich den Eltern zu. Die Mutter war inzwischen wieder zu sich gekommen und sie wollte die überreichten Geschenke der Männer ablehnen, aber die bestanden darauf und schließlich nahmen sie und ihr Mann sie beschämt an.
Später hat der Esel von einem Maultier, das mit den Hirten auf dem Feld gewesen war gehört, dass in dieser Nacht ein Engel erschienen sei, der die Hirten zu dem Stall geführt hatte, aber der Esel hielt nicht viel von solchen Behauptungen. Er hatte nichts gegen Maultiere, aber man konnte ihnen seiner Meinung nach nicht immer trauen und er selbst hatte keinen Engel gesehen. Auch der Ochse nicht, obwohl der eine ziemlich rege Phantasie hatte.
Dafür war da etwas anderes, das den Esel nicht mehr losgelassen hat. Das Kind lag in der Krippe und als es aufgehört hatte zu weinen bewegten sich seine Augen hin und her, so als könnte es alles schon genau erkennen. Er wusste dass junge Esel ziemlich kurzsichtig sind und bei Menschenkindern konnte es nicht anders sein, wahrscheinlich noch schlimmer, weil sie Jahre brauchen, um für sich selbst sorgen zu können, aber dieser kleine Junge schien alles um ihn herum genau zu erkennen. Er lächelte die drei Fremdländer an und streckte ihnen seine Ärmchen entgegen und es schien ihm auch gar nichts auszumachen, als sie ihm eine wohlriechende Paste auf das Haupt schmierten. Aber als die drei zu den Hirten hinausgegangen waren und auch die Eltern zu ihnen gekommen sind, der Stall also bis auf den Ochsen, den Esel und das Kind leer war, sah der Kleine den Esel mit einem Blick an, den er nie wieder vergessen sollte. Es war als würden Wände, die ihn sein Leben lang unsichtbar umgeben hatten plötzlich wegbrechen und den Blick auf etwas freigeben, das er nicht begreifen konnte. Er wusste, dass dieser Mensch, der dort vor ihm lag etwas besonderes war, vielleicht sogar mehr als nur ein Mensch, obwohl er nicht hätte sagen können, was das sein könnte. Vielleicht ein Engel, auch wenn er nicht daran glaubte. Er wusste, dass er in dieser Nacht nicht schlafen würde. Er würde auch die Hirten und die drei Reisenden und auch die Eltern des Kindes nicht wahrnehmen, die wieder angefangen hatten zu singen und sich wie vor einem König auf den Boden zu werfen. Er würde nur hier an der Krippe stehen, das Kind betrachten und in dem Glück baden, dass ihm geschenkt worden war. Aber gleichzeitig schlich sich in dieses Glück auch eine Trauer, die in ferner Zukunft zu liegen schien. Er sah sich durch das Tor von Jerusalem schreiten, Palmblätter und andere grüne Zweige unter seinen Hufen und einen Mann auf seinem Rücken, dem von allen Seiten her zugejubelt wurde. Aber auch wenn diese Vision mit lauter Hoffnung und Freude erfüllt war, schnürte sie dem Esel das Herz zusammen. Er wusste, dass er dann alt sein würde und noch viele Jahre bis dahin vergehen müssten, aber das machte es nicht besser. Sein einziger Trost waren die Augen des Kindes, die zu sagen schienen: „Was immer auch geschehen wird, es muss so geschehen."

Sebastian Keller






Bruder Grauschimmels Heimkehr


Viel ist in diesen Tagen von Weihnachtsmann, Christkind, Bethlehem und Geschenken die Rede. Dennoch ist uns das heimelig vertraute Weihnachtsgefühl unserer Kindheit hinter all den farbenprächtigen Anzeigen und Weihnachtsdekorationen beinahe gänzlich abhanden gekommen. Aber das wissen wir alle. Und wenn wir in einer Auslage oder auf einem Christkindlmarkt handgeschnitzte Krippen bemerken, sehen wir routinemäßig daran vorbei. Selten, dass sich eine Kindheitserinnerung belebt, noch seltener gar ein religiöses Gefühl abseits von den Klischees.

Dabei ist noch lange nicht alles erzählt von der Geschichte, wie sie damals vor mehr als zweitausend Jahren geschah. Zum Beispiel wurde uns nichts vom Leben der Hirten überliefert: Ob ihr Leben nach der Begegnung mit den Engeln und dem kleinen Jesus anders, wenn nicht gar heiligmäßig verlief, oder ob sie nur in der Weise berührt wurden, wie unsereins beim Anblick eines kleinen Kindes für einen Moment ergriffen wird. Wir nehmen wohl nicht selten den Himmel wahr, den uns ein solches völlig unschuldiges Wesen schenkt, lassen uns dann aber von unserem Alltag rasch wieder einfangen.

Oder was war mit den Weisen aus dem Morgenland? Keine Schrift berichtet uns über ihren weiteren Lebensweg. Zogen sie zurück in die Gegenden, aus denen sie gekommen waren, belehrten sie viele Menschen auf ihrem Weg, oder vermehrte sich ihr Gold, ihr Weihrauch und ihre Myrrhe, nachdem sie diese Dinge als Opfer dargebracht hatten und sicherlich dafür gesegnet wurden?

Derlei Fragen habe ich noch nie jemanden stellen hören. Noch viel weniger wäre jemand auf die Idee gekommen, nach den Tieren zu fragen, die damals im Stall zu Bethlehem Josef und Maria zur Seite standen. Der Ochs, der Esel, vielleicht auch Hühner oder Schafe oder Ziegen. Wurden auch sie berührt durch das himmlische Geschehen, mit dem sie die Nacht unter einem Dach zubrachten?

Esel verstehen zu hören und drehen ihre langen Ohren instinktiv an den richtigen Ort, wenn etwas Wichtiges geschieht. Wenn Menschen ihnen etwas befehlen, kann dies mitunter die Gegenrichtung sein. Sie wollen nicht immer hören, dass wir ihre Herren sind. Als aber der Herr des Himmels im Stall erschienen ist, da entging Bruder Grauschimmel nichts. Und er verstand noch lange vor den Hirten und den Weisen: er war auserwählt worden unter allen anderen Tieren.

Als sie damals vor der Krippe ergriffen niederknieten, die Hirten und die Weisen, da stand er aufrecht und still daneben. Nachdem sie gegangen waren und ihre Geschenke niedergelegt hatten oder sonst das Kind segneten, legte er sich sehr nahe zur Mutter Maria und wärmte sie mit seinem Atem. Denn es kühlte empfindlich ab in jenen Nächten. Als Josef einmal meinte, es scheine ihm alles sehr wundersam zu sein, was geschah, und dass er sich über alle Maßen über das Kind und die glückliche Mutter freue, da entrang sich Bruder Grauschimmels Brust ein leises „i-aah“. Obwohl beinahe nur gehaucht, sah er dennoch gleich zum Kind nieder, ob er es damit nicht erschreckt habe ...

Als Maria und Josef mit ihrem kleinen Knaben nach einigen Tagen den Stall verließen, blieb wohl noch ein gewisser Glanz zurück. Der Stallbesitzer und seine Familie zeigten sich darüber jedoch nicht glücklich. Denn die Geschichte hatte die Runde im Bezirk gemacht. Immer wieder versuchten Menschen, den Ort zu sehen, wo das Kind lag, fragten nach der Krippe, und wohin seine Eltern mit ihm gezogen seien. Es wollte lange keine Ruhe einkehren für die Stallbesitzer, die doch als einzige ein gutes Herz bewiesen hatten. Das war die eine Ursache, warum unser guter Grauschimmel nicht mehr bleiben wollte.

Das frühere Leben war dahin, sein an sich sehr ruhiger Eselsalltag wollte sich nicht mehr einstellen. Der andere Grund, warum er ganz ernsthaft an das Fortziehen dachte, lag in der großen Verzauberung seines Herzens. Wer dem Himmel einmal so nahe war, der kann nie mehr derselbe sein, der er war. Er wollte es aller Welt mitteilen, dass Engel sangen und dass ein kleines Kind in seinen Stall gekommen war, um allen Zweibeinern und Vierbeinern Frieden zu bringen.

Und so trabte er eines frühen Morgens in die Welt hinaus. Er folgte der Sonne auf ihrem Weg und befand sich bald in unbekannten Gegenden mit unbekannten Häusern. Tagelang zog er so dahin, wochenlang, jahrelang. Ein neues Ziel hatte von ihm Besitz ergriffen. Überall wollte er von jener außergewöhnlichen Nacht erzählen, allen wollte er das Wunder von Bethlehem schenken. Nur dafür lebte er, nur dafür trabte er durch die Lande, über den Staub der Straßen, durch Dörfer und Städte. Des Nachts ruhte er in den kleinen Höhlen, die es in jener Gegend zuhauf gab, oder einfach unter Bäumen. Zu trinken fand er immer eine Quelle oder einen Bach, und zu essen gibt es für Esel auf der ganzen Welt reichlich.

Überall auf seiner Reise traf er langohrige Grauschimmelbrüder und Grauschimmelschwestern. Manche zogen einen Wagen, manche trugen Männer auf ihren Rücken oder andere Lasten. Viele gingen gebückt unter ihrer Bürde. Einige trotteten lustlos durch den endlosen Staub und fanden ihr einziges Vergnügen darin, von Zeit zu Zeit bockstarrig stehen zu bleiben. Die jungen Esel aber, die er auf seinen Wegen antraf, blickten unternehmungslustig aus ihren klugen Augen in die Welt und drehten ihre Ohren beständig in alle Richtungen. Denn überall auf der Welt konnte ja etwas Bedeutendes passieren. Diese nahmen begierig auf, was er ihnen erzählte. Sie fragten ihn auch nach allen erdenklichen Einzelheiten. Der gute Esel verschwieg nichts. Je mehr sein Herz überfloss, eine umso größere Freude erfüllte ihn. Als nach dem Staub ungezählter Strassen das Alter sich allmählich zu seinem Weggefährten machte, als sein Fell immer unansehnlicher und struppiger wurde, glaubten ihm schließlich sogar auch die alten Esel, die ihn zuvor meist nur ausgelacht hatten.

Man weiß nicht, wie viele Jahre er so durch die Lande zog. Irgendwann einmal überkam ihn die Sehnsucht, sich zur Ruhe zu begeben. So fügte es sich, dass er eines Tages in eine Gegend kam, die ihm seltsam vertraut erschien. Da waren Hügel, die er kannte, da war der Bach, da waren die Schafe und Männer und Frauen, die alte Erinnerungen in ihm wachriefen. Die Menschen erschienen ihm zwar älter, die Kinder kannte er nicht und auch die Schafe blökten etwas anders als er es in seinen Jugendjahren gehört hatte. Aber es handelte sich zweifelsohne um die Gegend von Bethlehem. Von hier aus war er in die Welt ausgezogen.

Ob er wohl den Stall wieder finden würde, in dem damals das große Wunder geschah?

Unser braver Esel ging die vertrauten Wege, sah vertraute Häuser, sah neue Häuser und Stallungen. Aber er fand diesen einen Stall nicht, wo er seine Jugendzeit zugebracht hatte. Er stand nicht mehr. Zwar entdeckte unser Freund die Stelle, wo die Holzpfosten neben dem Felsen standen, scharrte mit einem Vorderhuf auch einige Reste der alten Lehmmauern frei, aber mehr als einige kümmerlichen Reste waren davon nicht mehr vorzufinden. Im Lauf seines langen Lebens hatte er gelernt, dass die Dinge nicht immer das waren, was sie zu sein scheinen. Es konnte Räume geben, die von keinen Mauern begrenzt waren. Er ließ sich an der Stelle nieder, wo früher immer sein Platz gewesen war und genoss die Stille der Nacht. Vieles zog durch seinen Sinn: wo das Kind lag, wo der Ochs seinen Platz hatte, wo die anderen Tiere gewöhnlich lagerten.

Mit einem Mal war ihm, als läge er wieder im Stall wie damals. Die Wände sah man, wenn die Finsternis der Nacht hereingebrochen war, auch früher nicht. Die Decke aber war nun höher, viel höher als damals, und es leuchteten tausend Sterne nieder. Er sog den Duft von frischem Stroh ein und blinzelte in den hell glitzernden Sternenhimmel. Leuchtete nicht ein besonderer Stern zu jener Zeit, genau über ihnen? Jetzt erinnerte er sich wieder. Und als er sich erinnerte, da glomm in der Mitte ein Stern auf, erst unscheinbar und klein, dann aber strahlte er groß und mächtig und hell. Ein behutsames „I-aah“ entwich der müden Eselsbrust. Leise und ergriffen wie damals. Und er blickte hinüber, ob er das Kind damit wohl nicht geweckt hatte.




Aber es lag wach. Es blickte ihn an. Im Licht des wundersamen Sterns schien das Kindlein ganz und gar aus Licht zu sein. „Komm“, sagte es leise, „komm mein Freund, mein treuer Freund! Komm, wärme mich mit deinem Atem!“ Und so wärmte er mit seinen letzten Atemzügen das wundervolle Kind, legte sich dann ruhig neben die Krippe nieder und fühlte sich so glücklich, dass es weder Esel noch Menschen beschreiben könnten.

Walter Kiesenhofer





Es geschah am Weihnachtsabend

 

Gustav zog seine Jacke fester um sich, aber er fröstelte dennoch. Es gab zu viele Löcher. Er musste sich unbedingt aus der Kleiderkammer der Suppenküche eine neue Jacke besorgen. Gleich nach Weihnachten. 

Er griff in seine Hosentasche und zog die Münzen heraus. Nur 80 Cent hatte er heute erbettelt. Das reichte nicht einmal mehr, um sich eine neue Flasche Wein zu besorgen und sie mit seinem Kumpel Friedrich auszutrinken. Er zitterte schon und hatte Bedenken, ob er es bis zur Lietzenburger Straße schaffen würde, wo sein Kumpel stets auf ihn wartete. Er brauchte dringend einen Schluck, um wieder Kraft schöpfen zu können. Ein Glühwein wäre auch nicht zu verachten, würde ihn zumindest wärmen.

Gustav blickte in ein hell erleuchtetes Fenster auf der anderen Straßenseite. Im Mittelpunkt stand ein geschmückter Weihnachtsbaum, um den sich eine Familie scharte. Eins, zwei, drei Kinder, die verpackte Geschenke in den Händen hielten. umarmten ein älteres Paar und ein jüngeres.

Ach, ja, das waren noch Zeiten, erinnerte sich Gustav. Als Heidi, seine Frau, noch lebte, hatten sie auch jedes Jahr einen großen Weihnachtsbaum. Die Kinder und Enkelkinder kamen extra aus den USA angereist. Gemeinsam gingen sie zum Gottesdienst. Anschließend gab es die Bescherung und ein feines Essen, Kassler oder Schweinebraten mit Kartoffeln mit Gemüse. Heidi hatte immer schon vor der Christfeier das Essen vorbereitet, damit sie immer gleich essen konnten. Mm, er hatte den feinen Geschmack noch auf der Zunge. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Die Enkel hatten es immer eilig, ihre Geschenke zu bekommen.  Aber das schönste Präsent war die Freude über ihr Zusammensein und die Gesundheit.

Er seufzte. Das Herz tat ihm weh.

Heidi wurde krank, hatte Leukämie und alle Therapien halfen nicht. Da wusste er, dass sie sterben würde, ihn allein zurücklassen.

Sie hatte keine Angst vor dem Tod. „Da, wo ich hingehe, gibt es keinen Tod und keine Trauer mehr. Gott wird sein alles in allem. Er wird abwischen alle Tränen und wegnehmen allen Kummer.“ Sie war so zuversichtlich.

Seine Tränen sah niemand, aber sein Kummer war groß. Was sollte er hier alleine auf dieser Welt? Was war das für ein Gott, an den Heidi glaubte, der sie ihm wegnahm?

Nach der Arbeit und an den Wochenenden hing er Zuhause und in der nächsten Kneipe herum. Er ließ die Wohnung verdrecken und schließlich sich selbst. Die Kinder boten ihm an, in die USA zu kommen. Sie würden sich um ihn kümmern, aber er wollte nicht. Was sollte er in diesem fremden Land? Schließlich wurde er entlassen; die Firma hatte Konkurs angemeldet. Einen neuen Job bekam er nicht. Er suchte Trost im Alkohol und kümmerte sich um nichts mehr. Da wurde ihm die Wohnung gekündigt. Er packte seinen Rucksack und lebte fortan auf der Straße. Dabei lernte er Friedrich kennen. Sie trafen sich jeden Abend und verbrachten sie Nächte zusammen.

Nur heute würde er es nicht schaffen, am Treffpunkt zu erscheinen. Er fühlte sich elend. Seine Knie waren ganz weich vom Zittern. Ob er krank war? Er musste sich nur eine Weile hinsetzen und ausruhen.

Heidi hatte immer gesagt, er müsse endlich reinen Tisch machen und zum Herrn Jesus finden. Sogar auf dem Sterbebett im Krankenhaus bat sie ihn darum. Er hatte es ihr in seiner Not auch versprochen und mit ihr zusammen gebetet, aber es war nur ein Lippenbekenntnis. Innerlich weinte er und beschimpfte Gott; damals weil er Heidi zu sich holte und heute weil er zuguckte, wie es ihm immer schlechter ging und er nichts dagegen unternahm. Warum sollte er ausgerechnet ihm vertrauen? Er wusste noch nicht einmal, wie er das anstellen sollte.

Es war eh alles egal, wenn er hier auf der kalten Stufe sitzen blieb, weil er nicht mehr weiter konnte, bekam er bestimmt eine Lungenentzündung – ja, das war es dann gewesen! Warum musste er eine Abkürzung nehmen und in dieser unbelebten Nebenstraße landen? Konnte ihm dieser Gott, dessen Geburt die Menschen heute feierten, nicht einmal helfen? Nur heute … einmal!

Da vernahm er das Klacken von Schuhen auf dem Asphalt. Eine Frau kam die Straße entlang, direkt auf ihn zu. Vor ihm blieb sie stehen und strahlte. „Sie sehen so aus, als ob Sie heute nichts vorhaben.“ Ihre Stimme klang freundlich.

Sie trug einen vornehmen Wollmantel mit Pelzkragen und einem Hut, unter dem ihre silbergrauen Haare hervorschauten.

Er blickte um sich herum, ob jemand anders gemeint sein könnte.

„Darf ich Sie zu einem Abendessen einladen?“ Die Frau meinte tatsächlich ihn. Ob sie ihre Brille vergessen hatte? Dann würde sie sehen können, dass er ein Straßenpenner war und damit war dann auch ausgeschlossen, dass sie etwas von ihm wollte. Wenn sie schon nicht richtig sehen konnte, musste sie es zumindest riechen.

Wo befand sich der Haken bei der Sache? Dennoch sammelte sich Speichel in seinem Mund bei dem Wort „Abendessen“.

„Ein richtig warmes Essen?“

„Ja.“ Sie lachte. „Hackbraten.“

Oh, Mann, das war zu viel des Guten. „Auch gekochte Kartoffeln?“

„ … Gemüse und Soße. Anschließend Kompott.“

Dem konnte er nicht widerstehen, aber … „Sie sind ganz sicher, dass Sie mich meinen?“

„Ja, der Pfarrsaal ist wollig warm und geschmückt. Geschenke gibt es und einen Weihnachtsbaum.“

Da musste etwas faul sein. Das war einfach zu schön, um wahr zu sein.

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. „Nun kommen Sie, sonst kriegen Sie noch eine Erkältung.“

„Aber ich rieche doch …“

Ihr Lachen wirkte ansteckend. „Ich bin sicher, dass sie auch duschen können, wenn Sie sich dann wohler fühlen. Ich habe noch Kleidung von meinem verstorbenen Mann, die Ihnen passen müsste. Er hatte ihre Statur.“

Die musste verrückt sein, aber er ergriff ihre Hand und ließ sich hochziehen. Es war nicht zu fassen, dass diese feine Dame ihn anfasste.

Sie hackte ihn unter. „Es sind nur ein paar Schritte bis zur Kirche. Das werden Sie sicher schaffen.“

„Ist dort Gottesdienst?“

„Der ist gerade vorbei. Unser Frauenkreis ist jetzt dabei, die Tische zu decken. Wir haben schon vor dem Gottesdienst alles vorbereitet. Aber wenn Sie auf Gottesdienst Wert legen, es gibt noch eine Christnachtfeier.“

„Ich muss noch zu meinem Kumpel Friedrich. Er wartet auf mich in der Lietzenburger Straße.“

Sie schaute ihn liebevoll an. „Für Friedrich werden wir auch eine Lösung finden. Sicher hat er auch Hunger.“

Das war alles seltsam. „Warum tun Sie das? Haben Sie keine Familie?“

„Oh, ich habe Kinder und Enkelkinder, aber jedes Jahr am heiligen Abend bereitet meine Gemeinde das Fest vor und wir gehen hinaus auf die Straßen, um einsame Menschen zum Festschmaus zu holen. Mit meiner Familie feiere ich morgen.“

Er schüttelte den Kopf. „Sie holen die Leute von der Straße?“

„Ja, damit die Liebe Gottes für andere sichtbar wird. Eine innere Stimme hat mir befohlen, die Nebenstraße entlang zu gehen und da saßen Sie.“

„Dann wollen Sie mich wohl bekehren?“

„Das wäre schön, wenn ich dazu in der Lage wäre, aber das kann nur Gott. Sie brauchen keine Angst zu haben, Gott zwingt  sie nicht. Er bietet sich Ihnen an und wartet auf Ihr Einverständnis. So, nun sind wir auch schon da.“

Sie schob ihn in einen großen Raum. „Schaut mal, ich habe noch einen lieben Gast mitgebracht.“ Dann bat sie ihn, Platz zu nehmen. Da hatte er schon einen Pott voll heißer Flüssigkeit in Händen.  Mm, das tat so gut. Ganz langsam nahm er Schluck für Schluck.

„Möchten Sie ein paar Kekse?“

Er nickte. Ihm fehlten einfach die Worte. Sollte Gott seinen Stoßseufzer erhört und sich seiner erbarmt haben? Anders konnte er sich das nicht erklären.

Gustav winkte der netten Frau hinterher, die sich auf den Weg machte, um Friedrich zu holen. Eigentlich hatte er nichts zu verlieren und konnte sich Gott anvertrauen.




Gabriele Höhnke




Gelb, blau und weiß

 

Gelb, blau und weiß
der Herbst den Heiland preist.
 
Gelb – und golden in der Sonne –
sind die Blätter, die im Tanz ihr Leben verschenken,
weil sie an den Baum nur denken.
 
Blau ist der Himmel, weit und klar.
Blau wie der Mantel, auf den fiel
der Jungfrau Haar.
 
Weiß die kleinen Wolken zieh’n.
Sind die weißen Blüten jetzt vergangen,
so sie nun am Himmel prangen: leuchtend schön.
 
Letzte Vogelstimmen begleiten den Farbgesang der Natur.
Und die Sonne – wie so manches Blatt –
leuchtet purpurn – strahlend satt.
 
Wenn auch viele Farben gehen,
der Tiere und der Formen viel,
so woll’n wir trotzdem
mit Wind und Regen singen,
dem Heiland auch im Herbst
ein Loblied bringen.
 
‚Lobet und preiset ihr Völker den Herrn‘.
Seht, über Bethlehem leuchtet ein Stern.
Solch ein Stern möge nun über jedem
Menschenherz leuchten und blinken.
Wir brauchen nicht in winterlicher
Dunkelheit und Finsternis versinken.
 
Der Herr selbst wurde geboren in Dunkelheit und Nacht hinein,
und erhellte Welt und Kreatur mit Seinem göttlichen Schein.
 
Eine Krippe soll nun auch mein Herze sein.
Ich will es bereiten, so gut ich kann,
für Jesus Christus, Gottes Lamm.
 
ER will mir Retter und Erlöser sein
von Nacht und Tod und Trug und Schein.
ER bringt mir Wahrheit, Weg und Leben.
Dies ist, was ich im Leben brauch‘
und die Schöpfung weiß es auch.
 
Wir singen, summen, säuseln, brausen
weiter Lob und Preis
und spüren im Verborgenen blühen
wohin unsere Gedanken, Träume und
Gebete ziehen.



Angela Hilde Timm






Weihnachten


Die Bäume sind blattleer;
der Wind geht kalt.
Der Schnee lässt immer noch
auf sich warten.
Wenn auch in Kaufhäusern
Weihnachtslieder dudeln,
Christkind ist für mich
noch lange nicht unterwegs.

Advent –
so gerne würde ich im Kerzenschein
auf den Bräutigam warten.
Meine Öllampe der Geduld
ist aber längst verloschen.
Jobsuche und Ämtergänge
haben mich ausgesaugt.
Meine Seele ist in irgendwelche
Ordner geheftet.

„Komm Emanuel!“
Lass dich von den langen Samstagen
in den Geschäften nicht abhalten.
Wir sehnen uns nach Dir,
besonders in der Heiligen Nacht,
die gar nichts mehr
mit Stille zu tun hat.

Komm Christus!
Erlöse uns
von dem Rennen nach dem
unnütz Wichtigem.
Zieh‘ unsere Herzen
an Deine Krippe,
damit wir endlich
zu uns selber kommen.


Martin Nowack




Weihnachtliche Betrachtungen

Anlässlich dieses Wettbewerbes habe ich mich nun mit dem Thema Ankunft befasst. Die Bibel leistet mir dafür große Dienste.
Also begann ich bei Mathäus.
Schon im ersten Kapitel Verse 18-25 konnte ich zu meinem Erstaunen, aber irgendwie auch zur Erleichterung erfahren, dass Josef, Marias Verlobter, sehr wohl Zweifel an ihrer Person hatte. Das bringt mir die Person Josefs ein wenig näher. Klar doch, die hatten die Ehe noch nicht mal vollzogen und schon war seine Verlobte schwanger. Da konnte es doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Also ich verstehe den Josef sehr gut. Er wird sich am Abend auf seinem Lager hin und hergewälzt haben, nach Antwort ringend.
„Maria ist ja eigentlich eine anständige Frau und so lieb. Dennoch trägt sie ein Kind unter ihrem Herzen, das zweifelsfrei nicht von mir ist. Nein vor Gericht will ich sie nicht bringen, aber vertrauen kann ich ihr auch nicht mehr!“
Solche, oder ähnliche, Gedanken müssen den Zimmermann wohl umgetrieben haben, bis er vor Erschöpfung nun doch eingeschlafen war. Da erschien ihm ein Engel und brachte ihm die Botschaft, er solle dennoch bei seiner schwangeren Verlobten bleiben und dem Kinde ein guter Vater werden, obwohl es nicht sein Sohn war. Vielmehr war es der Sohn Gottes, das Kind von dem die alten Propheten einst gesprochen hatten.
Ich kann mir den verwirrten Josef sehr gut vorstellen. Wie ihm wohl zumute war?
Muss er doch gewaltige Ambivalenz in sich gespürt haben. „Meine Verlobte trägt das Kind unseres Gottes? Wie soll denn das möglich sein?“

Schließlich hatte also doch der Gehorsam Gott gegenüber gesiegt und Josef hielt zu seiner Verlobten, die dann allerdings, laut meiner Auffassung, einmal bei ihrer Verwandten Elisabeth Unterschlupf fand.
Also drei Monate lang bevor Johannes geboren wurde stand Maria ihrer Verwandten bei.
Nicht nur das, ich denke dass die beiden sicher viel zu plauschen hatten. Denn, erstens erwarteten beide, ich sag mal, unmögliche Kinder. Zweitens wussten beide, dass es Söhne werden würden. Drittens lagen beiden Schwangerschaften Engelsbegegnungen zu Grunde. Also, wenn es da nichts gemeinsam zu verarbeiten galt, dann weiß ich auch nicht. Das war sicher eine innige Zeit, die die beiden Frauen miteinander verleben durften. Da wurde sicher gesungen und Gott gepriesen was das Zeug hält.
Denn wenn man bedenkt, Elisabeth war ja echt nicht mehr jung. Und dennoch bekam sie nun ihr erstes und einziges eigenes Kind. Vor allem aber auch warteten beide auf die Geburt eines Kindes, was ja auch immens zusammen schweißt.
Ich gehe einmal davon aus, dass Maria ihrer Verwandten bei der Geburt ebenfalls Beistand leistete. Ich habe zwar keinerlei Hinweise darauf gefunden, dennoch lässt mich dieser Gedanke nicht los. Aber schließlich wurde die Bibel ja doch nur von Männern geschrieben und denen war das damals ja auch egal, wie die Frauen das mit der Geburt hinkriegten.

Als Johannes geboren wurde, war Maria also im vierten Monat. Die allgemeine Übelkeit somit vorbei. War Maria vielleicht sogar in erster Reihe mit dabei, als der kleine Johannes das Licht der Welt erblickte? Wenn sie echt dabei war, dann waren die nächsten sechs Monate sicher kein Honiglecken.
Irgendwie glaube ich fast, dass Maria dabei war. Wie hat sie die Geburt als Beobachterin erlebt, wohl wissend, dass ihr in naher Zukunft ähnliches bevorsteht?

Marias FIAT, ihr, „ES WERDE“ erlebe ich in diesem Zusammenhang noch viel intensiver. Ich wusste bei meiner ersten Geburt nicht was auf mich zukommen würde. Aber, wenn Maria wirklich dabei war, dann war ihr persönlicher Advent sicher sehr turbulent. Eigentlich ist ja jede Schwangerschaft ein bisschen Advent. Warten auf die Ankunft.
Doch in Marias besonderen Fall wohl aus etlichen Gründen noch viel dramatischer.

Zum einen weil sie wie ich vermute wirklich dabei war. Denn in Lukas 1, 26 steht, dass als Elisabeth im 6. Monat war, Maria Jesus empfing. In Vers 39 des gleichen Kapitels steht frei übersetzt, dass Maria zu Elisabeth ging und dort drei Monate blieb. Die wird doch sicher nicht kurz bevor Elisabeth niederkommt das Weite gesucht haben. Nein, so schätze ich sie nicht ein.
Für mich steht es felsenfest, dass Maria dabei war und eventuell sogar als Hebamme fungierte.

Doch nun zum nächsten Grund, der diesen Advent sehr speziell werden ließ. Der Engel versicherte ihr, Gottes Sohn zu tragen. Der Gott Davids und all seiner Vorfahren hat sie auserwählt um die Mutter des Erlösers zu werden. Ich kann mir vorstellen, dass trotz der Begegnung Josefs mit einem Engel sicher noch einiges zwischen den nun schon Eheleuten stand.
Maria und Josef waren doch zweifelsfrei Menschen. Also kämpften auch sie mit menschlichen Regungen, nehme ich einmal an.
Ebenso wird Maria auch Angst vor der Geburt gefühlt haben, wie jede andere werdende Mutter auch. Engel hin, Engel her. Im Alltag steht man irdischen Dingen gegenüber.
Außerdem, was hatte Gott noch mit ihr vor? Besser noch, mit der Frucht ihres Leibes? Was will Gott von ihrem Sohn? Kann sie es überhaupt aufnehmen, mit dem was da auf sie zukommen würde? Könnte sie es als Mutter schaffen? Letzteres fragt sich schon jede „Otto-Normal-Schwangere“. Aber gerade für Maria muss das wohl der Überhammer gewesen sein.
Einerseits Ehre, aber viel schwerwiegender muss wohl die Last auf ihren Schultern, und nicht nur Beinen, gewesen sein.

Meinen Recherchen zufolge muss Maria echt hochschwanger gewesen sein, als Josef und sie zu Fuß Richtung Bethlehem reisten, um sich administrieren zu lassen. Ich hoffe für Maria, dass sie einen Esel dabei hatten. Ich denke schon. Denn als Zimmermann, hatte man sicher sein Auskommen. Viel brauchten die damals ja nicht.

Vielleicht war die Reise für Maria so anstrengend, dass Jesus etwa zwei drei Wochen zu früh kam? Wie auch immer.
Unser Erlöser landete schließlich im Stall in einer Krippe, was dann auch sein Merkmal wurde, anhand dessen die Leute, die neugierigen Babyschauer, ihn als den erkennen sollten, was die Engel Gottes den Hirten auf dem Felde verkündeten. Den armen Männern, da, musste wohl die Kinnlade heruntergeklappt sein, als sie die Engel in ihrem strahlenden Glanz erblickten.
Gebannt lauschten sie wohl dem Chor:

„Groß ist von jetzt an Gottes Herrlichkeit im Himmel; Denn sein Frieden ist herabgekommen auf die Erde zu den Menschen, die er erwählt hat und liebt.“(Lukas 2,14) ----------------------WOW


 

Diane Legenstein



Es ist Advent


Es ist Advent
Und alles rennt

Alle rasen wie verrückt
Durch die Läden – voll geschmückt.
Hektik, Streß in allen Gassen,
überall sind Menschenmassen.

Es ist Advent
Ein Lichtlein brennt

Gemütlich ist’s bei mir zuhaus
Ich mache alle Lichter aus.
Und sitz bei Kerzenschein,
mit einem Gläschen Wein.

Was ist Advent?
Kaum einer kennt..

..noch die Geschicht von Jesus Christ
dass er zum Fest geboren ist.
Laßt uns wieder daran denken,
und nicht nur ans große Schenken.



Anette Pfeiffer-Klärle






 

Verheißung

Lebendiges Wasser
ist uns verheißen,
auch wenn in den Augen
die Tränen noch beißen.

Tropfen von Segen
soll'n sich ergießen.
in Überfülle
werden sie fließen.

Verkarstet und trocken
die Herzen, so alt.
Ein Regen der Freude
erquicket sie bald.

Lebendige Quelle,
die Wunden sanft heilt
und selbst noch im Tode
bei uns verweilt.

Geboren wird Jesus,
das göttliche Wort.
Erlöser und Heiland,
der Tränen wischt fort.




Maria Sassin








Schlaf gut, Geburtstagskind!

Als Tina am Nachmittag des Heiligen Abend aus der Haustür trat, traf sie die Kälte wie ein heftiger Schlag. Sie schnappte nach Luft, zog den Reißverschluss ihres Anoraks hoch und bereute, nicht anstelle ihres Käppis eine Mütze aufgesetzt zu haben. Erleichtert, dass sie wenigstens Handschuhe in der Tasche hatte, streifte sie diese über, einen Lebkuchenstern zwischen den Zähnen. Ihr kleiner weißer Hund Pablo tippelte dicht neben ihr her, die fast schwarzen Augen unablässig auf Tinas Gesicht gerichtet in der berechtigten Hoffnung, dass auch für ihn ein paar Leckerlis abfallen würden. Mit raschen Schritten gingen sie ihre gewohnte Runde, über grauen Asphalt und vom Frost leise knisterndes braunes Gras und waren schon wieder auf dem Heimweg, als ihnen in der Dämmerung aus einer Seitenstraße eine Gestalt entgegenkam, im langen dunklen Mantel, einen roten Schal um Kopf und Hals geschlungen. Die Gestalt winkte Tina fröhlich zu. „Hi, ihr beiden!“ Auf Tinas kaltem Gesicht breitete sich ein freudiges Grinsen aus. „Mira!“ Tina schniefte. „Ich wusste gar nicht, dass du in den Ferien hier bleibst!“ Die Studentin der Tiermedizin im ersten Semester wohnte seit ein paar Monaten zur Untermiete bei Frau Kölbl, der allein stehenden Nachbarin in der Wohnung gegenüber. Die ewig grimmige Frau Kölbl war in Tinas Achtung erheblich gestiegen, seit sie wusste, dass die ältere Dame eine junge Frau mitsamt ihrer zahmen Ratte namens Linchen bei sich wohnen ließ. Mira beugte sich zu Pablo hinunter, um ihn zu begrüßen. „Meine Eltern und meine Schwester sind nach Hawaii geflogen zum Surfen. Ist nicht mein Ding. Ich brauche einfach die Kälte hier zu Weihnachten.“ Sie richtete sich wieder auf, und Pablo wandte sich schnuppernd der Hecke zu, neben der sie standen . „Frau Kölbl hat mich eingeladen, mit ihr Weihnachten zu feiern.“ Tina zog die Augenbrauen hoch und fragte sich im Stillen, welche dieser beiden letzten Aussagen sie erstaunlicher fand. „Aber die Küche ist heute Abend ihr Reich. Da lässt sie mich nicht mitmischen.“ Mira zwinkerte ihr grinsend zu, und Tina erwiderte das Grinsen, irgendwie erleichtert, denn sie hatte sich schon langsam gefragt, ob wirklich noch Frau Kölbl in der Wohnung gegenüber wohnte oder vielleicht ein Klon aus dem All, der die Erdlinge ausspionieren sollte.

„Sag mal“, unterbrach Mira Tinas fantastische Gedanken und hakte sich bei ihr unter. „Drüben im evangelischen Gemeindehaus steigt heute Abend eine Geburtstagsfete. So gegen Zehn. Hast du nicht Lust mitzukommen?“ „Ich?“ Tina war noch erstaunter als zuvor und versuchte sich zu erinnern, ob vielleicht einer ihrer ehemaligen Mitkonfirmanden am Heiligen Abend Geburtstag hatte. Zur Antwort auf ihre eigene innere Frage schüttelte sie den Kopf. „Ich kenne nicht einmal das Geburtstagskind. Geschweige denn, irgend einen von den Gästen.“ „Doch, du kennst MICH!“, erwiderte Mira strahlend. „Und jede Wette: Du kennst auch das Geburtstagskind. Auf jeden Fall kennt er dich!“ Sie zwinkerte wieder und tippte Tina spielerisch mit dem behandschuhten Zeigefinger an die Brust. Inzwischen hatten sie die Haustür erreicht, und Tina öffnete sie mit ihrem Schlüssel. „Also, ich weiß nicht…“, murmelte sie. „Ach, komm.“ Mira stellte sich vor sie. „Zier dich nicht. Ich hol dich nachher ab, okay?“ Ohne die Antwort abzuwarten, lief sie leichtfüßig die Treppen hoch. Bevor sie oben im hell erleuchteten Hausflur verschwand, beugte sie sich noch einmal über das Treppengeländer. „Bis gleich dann, ja?“ Und weg war sie. Tina folgte ihr langsam die Treppe hinauf. „Also, gut.“, sagte sie zu sich selbst, als sie oben im dritten Stock die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte.

Während des Abendessens war Tina heilfroh über die Aussicht, die Wohnung noch einmal verlassen zu dürfen, denn nach einem heftigen Streit zwischen ihr und ihrem jüngeren Bruder während der Bescherung war die Stimmung in der Familie ziemlich gespannt. Inzwischen war jeder auf jeden böse. Jedenfalls schien es Tina so, und wie an den vergangenen drei Heiligen Abenden fragte sie sich, wie es trotz aller guten Vorsätze so weit hatte kommen können. Das Abendessen und der gedeckte Tisch, beides von ihrer Mutter mit viel Sorgfalt und Liebe zum Detail vorbereitet, hatten alle Feierlichkeit verloren. Die CD mit den enervierenden amerikanischen Weihnachtsliedern aus dem Lautsprecher, die aber immerhin die kalte Stille gefüllt hatten, ging mit Frank Sinatras „White Christmas“ zu Ende. Tinas Bruder Kevin rutschte gelangweilt vor seinem leeren Teller auf dem Stuhl herum und starrte auf den Dessertlöffel, den er zwischen den gespreizten Fingern seiner linken Hand geräuschvoll hin und her springen ließ. Ihre Eltern schenkten sich ein Glas Wein nach dem anderen ein, die eine den Tränen nahe, der andere mit hochrotem Kopf und zunehmend grimmigem Blick, den sowohl Tina als auch Kevin und ihre Mutter zu meiden suchten. Dieser Blick erinnerte Tina immer an den eines Messerwerfers im Zirkus, der seine auf einer runden Scheibe festgeschnallte Assistentin mit halb zusammengekniffenen Augen anvisierte, so dass der Zuschauer fürchtete, dass er am Ende gar nicht daneben zielen würde. Mit Mühe leerte Tina ihren Teller, legte die Serviette daneben und stand auf. „Ich geh dann mal“, sagte sie leise. „Mich umziehen!“, ergänzte sie auf den fragenden Blick des Vaters hin und schluckte hart in der Befürchtung, dass er seine Erlaubnis, zu der Party im Gemeindehaus zu gehen, zurücknehmen würde. „Ach so, ja.“, brummelte er tonlos und stand auf, um eine andere CD einzulegen. Die Mutter begann, langsam das Geschirr zusammenzustellen, und Tina biss sich verschämt sich auf die Unterlippe, weil sie selbst nicht daran gedacht hatte, den Tisch abzuräumen. Sie beruhigte ihr Gewissen mit dem Gedanken, dass es ihrer Mutter so wahrscheinlich ohnehin lieber war und verschwand in ihrem Zimmer. Pablo war ihr gefolgt, und Tina setzte sich auf den Teppichboden, um Pablo, der sich sofort auf ihrem Schoß zusammenrollte, das wuschelige Fell zu kraulen. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, nahm Pablo in den Arm und sah ihn an: „Jetzt reißen wir zwei uns aber zusammen, ja?“ Der Hund versuchte, ihr das Gesicht abzuschlecken, aber Tina schüttelte mit einem wackligen Lachen den Kopf und setzte ihn sanft auf den Boden neben sich. Sie blieb so lange in ihrem Zimmer, bis es an der Tür klingelte.

Mira versicherte Tinas Vater höflich, dass es im Gemeindehaus weder Alkohol noch Drogen gab und dass sie seine Tochter spätestens um Mitternacht wieder nach Hause bringen würde. Der Vater holte sich mit einem wortlosen Blick ein zustimmendes Nicken von Tina ein und trat dann einen Schritt zurück, um ihr den Weg frei zu machen. „Viel Spaß!“, sagte er leise, aber deutlich. Tina schenkte ihm dafür ein dankbares Lächeln, rief ein schnelles „Ciao!“ in Richtung Wohnzimmer, wo inzwischen der Fernseher die Stereoanlage abgelöst hatte, und schloss eilig die Tür hinter sich.
Diesmal hatte sich Tina wärmer angezogen. Bald erreichten die beiden jungen Frauen die Kirche und das hell erleuchtete Gemeindehaus, aus dem mäßig laute Live-Musik auf die Straße drang. Tina blieb stehen. „Mann, bin ich blöd!“, stöhnte sie und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. Happy Birthday, Jesus! stand in bunten Buchstaben auf einem breiten Bettlaken-Banner, das von der Fensterfront im oberen Stockwerk über dem Eingang des Gemeindehauses herunterhing. „Tröste dich!“ Mira lachte. „Die wenigsten Leute kommen drauf, wessen Geburtstag heute gefeiert wird. Das ist der halbe Spaß dabei.“ Sie gingen hinein und hängten ihre warmen Sachen an der Garderobe auf. Als sie den Saal betraten, beendete gerade die Band unter lautem Jubel und Applaus einen fetzigen Gospelsong. Nachdem Mira ein paar Leute begrüßt und Tina sich ein wenig umgesehen hatte, holten sie sich alkoholfreie Cocktails an der Bar. Dann fasste Mira Tina am Arm und lenkte sie auf eine Gruppe von Teenagern zu, von denen sie ein paar aus der Schule kannte. Sie stellte fest, dass die anderen Jugendlichen fast ausnahmslos ebenso alltäglich gekleidet waren wie sie selbst und war froh, dass sie sich nicht in den schicken engen Rock gezwängt hatte, den sie zunächst für den heutigen Abend ausgesucht und dann doch noch gegen eine bequeme Cordhose getauscht hatte .

Pünktlich um Mitternacht standen die beiden wieder vor ihrer Haustür. „Schau mal da!“, rief Mira und zeigte zum Himmel. Tina sah eine große helle Sternschnuppe, die einen großzügigen Bogen an den Himmel schrieb und dann im Zeitlupentempo ins Sternenmeer eintauchte . „Das gibt’s doch nicht!“ Tina stand staunend mit offenem Mund da, den Blick weiterhin gen Himmel gerichtet. „Doch!“, sagte Mira. „Glaub es ruhig: Gott ist wunderbar. Und hin und wieder zeigt er uns das ganz deutlich!“ Mira nahm Tina fest in die Arme und küsste sie herzlich auf die Wange. „Frohe Weihnachten!“, sagte sie. Tina erwiderte die Umarmung. „Das wünsche ich dir auch!“ Oben im Hausflur verabschiedeten sich die beiden leise. „Kommst du bald mal wieder rüber?“, flüsterte Mira. „Linchen vermisst dich schon!“ Tina nickte heftig. Dann winkten sie sich noch einmal kichernd zu wie zwei alberne kleine Mädchen und schlossen die Wohnungstüren hinter sich. Tina ging am Wohnzimmer vorbei, wo ihr Bruder immer noch vor dem Fernseher saß und sich geistesabwesend Popcorn in den Mund stopfte. „Frohe Weihnachten!“, sagte sie ganz leise und schlich unbemerkt in ihr Zimmer. Bevor Tina die Jalousie über ihrem Schreibtisch herunterließ, sah sie noch einmal zum Himmel hinauf. „Schlaf gut, Geburtstagskind!“, sagte sie lächelnd. Als sie im Bett lag und noch über das schöne Ende dieses Heiligen Abends nachdachte, fielen ihr bald die Augen zu, und sie schlief friedlich einem unglaublich schönen, strahlend weißen Weihnachtsmorgen entgegen.


Nicole Kruska





Vielen Dank allen für's Mitmachen! Die Wahl ist bei so vielen hervorragenden Texten nicht leicht gefallen.

Die Jury:

Elke Aaldering
Maria Sassin
Peter Hoefft
Eckart Haase


weitere Wettbewerbstexte:
"Welt ging verloren..." (Platz 1)
Ein wundersames Erlebnis (Platz 2)
Der letzte Strich (Platz 3)
Das Geschenk (Platz 4)
Weihnachtszeit (Platz 5)
Übersicht

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