Ent-fesselt
- christliche Kurzgeschichte -





Ent-fesselt




Viele Wochen schon freute ich mich auf unseren Sommerurlaub. Fünf ganze Tage frei! So lange Ferien hatten wir noch nie gehabt! Wir wollten mit dem Auto nach Nord-Italien. Es gab einen bestimmten Anlass, diese Region zu durchfahren, aber der spielt in meinen Erinnerungen keine Rolle.
Es wurde eine hektische Fahrt von Stadt zu Stadt an der Riviera entlang. Überall konnten wir nur ein paar Stunden bleiben. Das verschärfte den Konflikt, von dem ich erzählen will.
Bei mir war sie nämlich mit Macht durchgebrochen: Die unstillbare Sehnsucht nach dem Meer. Die fiebrige Erwartung, die Wellen zu riechen, sie zu sschmecken, zu fassen, mit ihnen zu verschmelzen, den Wind zu begrüßen! Ach so lange, so lange war ich nicht zuhaus!
Man könnte denken, ich sei am Meer geboren und nur durch ein schreckliches Schicksal von dort vertrieben worden - dabei hatte ich die See erst mit einundzwanzig Jahren zum ersten Mal gesehen!

Das Meer war für mich viel mehr als eine große, bewegte Badewanne. Viel mehr als etwas, woran man sich freuen kann oder es auch lassen, so wie andere Menschen über Berge oder Wüsten denken.
Die Nähe des Meeres zu spüren und jede Minute erbeben; es zu fühlen, zu grüßen, mit ihm zu reden, zu spielen, zu lachen – a ls wäre die lange Trennung von einem geliebten Menschen endlich vorbei.

Das waren die Empfindungen, die mir einen unbeschwerten Aufenthalt im schönen Italien unmöglich machten.
Woher mochte dieses Ziehen im Herzen kommen?
Es war eine seltsame Gebundenheit, die ich noch in der ersten Nacht im heimischen Bett so stark und schmerzhaft durchlitt wie nie zuvor. Wie hatte ich versucht, um jede Ecke der Autostrada noch einen Blick hinunter auf den Strand, auf die gleißende, grünblaue Fläche zu erhaschen!
Warum nur musste ich m e i n Meer wieder verlassen? Ich wälzte mich von einer Seite zur anderen und konnte damit nicht fertig werden.
Plötzlich spürte ich diesen Blick auf mir. Augen voller Liebe und Trauer. Wessen Augen? Es wurde mir schlagartig klar: Es g ab einen, der mehr Anspruch auf meine Liebe hatte als das nasse Element. Einen, der um meinetwillen die Herrlichkeit des Himmels verlließ und sein kostbares Leben hingab, um mir sein unzerstörbares Leben zu schenken.
Seine Augen waren es, die mich fragten: „Wen hast du lieber? Mein Geschöpf, das Meer, das deine Gefühle niemals erwidern kann? Hast du schon einmal erlebt, wenn es als Todfeind gegen den Menschen auf steht und das Wasser Verderben bringt ohne Mitleid? Willst du dich daran ketten, als wäre es dein Liebstes?“
Ach, wie habe ich mich in dieser Nacht geschämt!
Das Meer ist mir nicht weggenommen – nein, es ist nur eine Fessel zerrissen. Die Fessel hätte mir fast das Herz wund gerieben.
Frei kann ich nun am Rande der Wellen stehen, mit innerem Jubel das breite, goldene Band bewundern.



Ursula Hellmann



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