Zielrichtung Himmel
- himmlische Hoffnung -





Zielrichtung Himmel





Harry war ein richtiger Seebär, ein Hüne von einem Mann. Seit über 30 Jahren ging er
nun schon zur See. Auf allen Weltmeeren war er gewesen, nahezu jeden Hafen der Erde hatte
er schon bereist. Doch heute war für Harry ein trauriger Tag. Denn er hatte seine Arbeit
verloren. Die Reederei, bei der er beschäftigt war, musste schließen – Auftragsrückgang.
Gestern hatte er seine Kündigung erhalten, genau so wie seine anderen Kollegen. Das hatte
Harry tief getroffen, denn die Seefahrt war ihm sehr ans Herz gewachsen und auf dem Meer
fühlte er sich heimisch. Er wusste überhaupt nicht, was er nun ohne seinen Job tun sollte. Aus
reiner Gewohnheit war er heute Morgen zum Hafen gegangen. Etwas anderes wäre ihm auch
gar nicht in den Sinn gekommen. Er schaute nach seinem Schiff, der Isidora, doch er konnte sie nicht
finden. Wahrscheinlich befand sie sich schon in der Werft, wo sie demontiert und
ausgeschlachtet werden sollte. In den letzten acht Jahren war sie Harrys Heimat gewesen. Er
hatte schon auf vielen Schiffen gearbeitet. Es waren zumeist Handelsschiffe, die Güter von
einem Ort zum anderen transportierten. Er war auf mächtigen Ozeanriesen gewesen und auch
auf kleineren Transportschiffen, so wie es die Isidora war. Er hatte sie sehr in sein Herz
geschlossen. Sie war sicherlich nicht besonders groß, dafür aber schnell und wendig. Er hatte
es auf diesem Schiff bis zur Rechten Hand des Kapitäns gebracht. Zu seinen Pflichten gehörte
es, die Mannschaft einzuteilen und deren Arbeit zu koordinieren. Natürlich packte er auch
immer selbst mit an. Das ging bei solch kleinen Schiffen gar nicht anders. Aufgrund seiner
sanften, aber dennoch gradlinigen Art war er sehr beliebt bei seinen
Kollegen. Er hatte nie den Vorgesetzten raushängen lassen, sondern sah sich als ein Teil der
Mannschaft, so wie alle anderen auch. Er hatte jederzeit ein offenes Ohr für die Sorgen und
Nöte seiner Kollegen und nicht selten lauschte er geduldig deren Geschichten.
Doch heute hätte er selbst gerne jemanden gehabt, zu dem er hätte gehen können. Hauptsache
einem Menschen mal so richtig das Herz ausschütten, das hätte ihn jetzt schon ein wenig
aufgebaut. Doch wem? Die Seefahrer waren zumeist harte Kerle, richtig raue Burschen. Er
kannte keinen, den er auch nur im Ansatz für geeignet gehalten hätte, ihm jetzt zu helfen.
Für den Moment beschloss er daher, die Hafenkneipe aufzusuchen. Wenn es schon
niemanden gab, der ihn jetzt hätte trösten können, so konnte er dort wenigstens etwas
Abwechslung und Geselligkeit finden. Die Hafenkneipe hatte 24 Stunden am Tag geöffnet. Es
war immer etwas los, denn Schiffe legten zu jeder Tages und Nachtszeit im Hafen an. Und so
gab es hier ein reges Treiben, ein ständiges Kommen und Gehen. Es war
unzweifelhaft eine dieser typischen Seefahrerspelunken, so wie sie im Buche stehen.
Als er die Kneipe betrat, war es schon ziemlich voll. Die etwa zehn Tische waren alle besetzt
und ein munteres Stimmenwirrwarr beherrschte die rauchgefüllte Atmosphäre. Hinten an der
lang gezogenen Bar waren noch wenige Plätze frei. Als er sich gesetzt hatte, musste Harry
erst einmal tief Luft holen. Er konnte nicht von sich behaupten, dass es ihm gut ginge. Nein,
es ging ihm schlecht, Hundselend war ihm zumute. Ihm wurde immer klarer, dass er sich in
einem tiefen, großen Loch befand. Das Loch wurde immer größer, je mehr er über seine Lage
nachdachte. Er war ein erfahrener Seemann, aber auch nicht mehr der Jüngste. Seine
Chancen, einen neuen Arbeitgeber zu finden waren gering. Er kannte das Geschäft. Die
Reedereien stellten vornehmlich junge, kräftige und vor allem billige Leute ein. Da konnte er
nicht mehr mithalten, soviel stand für ihn fest.

Als er noch so über seine aussichtlose Situation nachsinnierte, setzte sich ein anderer Mann
neben ihn. Harry registrierte ihn erst nicht, denn in seinen Gedanken war er ganz weit weg.
„Hallo Harry“, sagte der Mann plötzlich. Überrascht fuhr Harry hoch. Er drehte seinen Kopf
zu dem Mann und schaute ihn fragend an.
„Kennen wir uns?“
„In gewisser Weise ja“, antwortete der rätselhafte Mann. „Sagen wir, ich habe von dir
gehört.“
„Und?“, fragte Harry, „Ich glaube, im Moment kann ich Ihnen wirklich nicht helfen. So leid
es mir tut, aber ich habe erst gestern meinen Job verloren und...“
Der Mann unterbrach ihn sanft.
„Harry, ich weiß. Und es tut mir leid. Aber ich habe vielleicht eine neue Aufgabe für dich.
Draussen im Hafen liegt mein Schiff, die ‚Good Journey’. Wenn du möchtest, kannst du
anheuern. Wir könnten jemand wie dich gebrauchen.“
Harry fragte sich, ob er richtig gehört habe. Woher wusste der Mann, dass er gerade seinen
Job verloren hatte? Hatte es sich bereits herumgesprochen? Und warum gerade er?
Er war immer noch dabei, sich einen Reim auf die Sache zu machen, da unterbrach ihn die
Stimme des Fremden.
„Harry, wenn du bereit dazu bist, dann komm heute Abend um Zehn Uhr zum hintersten
Dock. Dort wird dann mein Schiff sein. Wir werden bis kurz nach Zehn auf dich warten.
Wenn du da bist, nehmen wir dich mit auf die Reise.“
Der Mann sah ihn sehr eindringlich dabei an, während Harrys Augen immer größer und
größer wurden.
„Reise wohin? Und was soll ich tun?“
Aber er bekam keine Antwort mehr auf seine Fragen. Der Mann war aufgestanden und hatte
so unauffällig wie er gekommen war, das Lokal wieder verlassen. Harry war tief bewegt, ja
fast ausser sich. Sollte er doch nochmal eine Chance bekommen? Erst langsam begriff er, was
soeben vorgefallen war. Er wünschte sich von Herzen, dass es kein Scherzbold gewesen war,
der hier eben neben ihm saß. ‚Good Journey’? Er hatte nie von diesem Schiff gehört. Und im
hintersten Dock? Soweit er wusste, wurden die hintersten Docks gar nicht mehr genutzt. Die
neuen, fest verankerten Hafenkräne konnten sie wegen der Entfernung gar nicht mehr zum
Ein- und Ausladen bedienen. So legten allenfalls mal Sportboote dort an. Eine Reihe von
Fragen schossen ihm durch den Kopf. Aber wozu war er hier? Die Kneipe war wohl der beste
Ort, um ein paar Informationen zu bekommen. Als ersten fragte er den Wirt. Doch auch dieser
hatte noch nie von der ‚Good Journey’ gehört. Auch seine weiteren Befragungen brachten
nichts Greifbares zu Tage. Wen er auch fragte, er bekam immer dieselbe Antwort. Niemand
hatte je von diesem Schiff gehört. Das machte die Sache immer rätselhafter. Doch aus
irgendeinem Grund fühlte er, dass es mit diesem Schiff etwas Besonderes auf sich haben
musste.

Es war jetzt fast Mittag. Noch etwas über zehn Stunden blieben ihm bis zu dem Termin, den
ihm der unbekannte Mann genannt hatte. Was hatte er schon zu verlieren? Hingehen konnte er
ja mal. Schlimmstenfalls würde sich alles als ein schlechter Scherz herausstellen und er würde
wieder nach Hause gehen. Nach Hause? Nun, dieser Ausdruck traf nicht ganz das, was Harry
hier erwartete. Eine eigene Wohnung hatte er schon lange nicht mehr. Seine Heimat war das
Schiff gewesen, auf dem er eine eigene Kajüte gehabt hatte. Und wenn ihm mal der Sinn nach
etwas Landleben war, dann gab es in jedem Hafen Herbergen in ausreichender Zahl. Auch im
Moment hatte er sich in einer solchen einquartiert. Er entschied sich dafür, die restliche Zeit
dort zu verbringen. Er hatte ohnehin reichlich Schlaf nachzuholen und wollte für den Fall des
Falles ausgeruht zu seinem abendlichen Termin erscheinen. Also stand er auf und verließ die
Kneipe wieder. Auf dem Weg zu seinem Zimmer konnte er an nichts anderes denken, als an die
seltsame Begegnung, die er soeben gehabt hatte. Trotzdem war er sehr erschöpft und sehnte sich
nach etwas Ruhe. Als er in der Herberge angelangt war, warf er sich auf sein Bett und fiel in einen
flachen, unruhigen Schlaf.

Um Neun Uhr stand er auf. Er musste sich nicht beeilen, denn zum Hafen waren es höchstens
zehn Minuten zu Fuß. Er packte seine wichtigsten Sachen zusammen, wusch sich ausgiebig,
kämmte sich und sprach ein letztes Gebet: „Herr, ich lege meine Wege in deine Hände. Ich
glaube, du wirst es gut machen. Amen.“
Sein Gottvertrauen hatte ihm schon in vielen Situationen geholfen und auch heute wollte er
nicht ohne den Beistand des Allmächtigen aus dem Hause gehen. Er sagte an der Rezeption
Bescheid, dass er heute möglicherweise nicht wieder kommen würde und verabschiedete sich.
Die Uhr zeigte etwa zwanzig vor Zehn, als er aufbrach. Es war schon dunkel und es lag eine
dichte Wolkendecke über dem Ort, so dass es stockduster war. Zum Glück kannte er den Weg
wie im Schlaf und er bewegte sich zielgerichtet vorwärts. Es dauerte nicht lange und er war
im Hafen angekommen, in dem es durch die Schiffsbeleuchtungen einigermaßen hell war. Bis
zum letzten Dock hatte er noch einige Meter vor sich. Je näher er kam, desto aufgeregter
wurde er. Was mochte ihn dort erwarten? Still betrachtete er im Gehen die Schiffe, die seitlich
im Hafen lagen. Auf einigen davon schien bereits die Nachtruhe angebrochen zu sein, auf
anderen wurde immer noch gearbeitet. Er sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten bis Zehn.
Vorsichtshalber beschleunigte er seine Schritte etwas. Nun wurde es auch wieder dunkler,
denn hier hinten lagen keine Schiffe mehr vor Anker. Er war nun fast da. Als er genauer
hinsah, konnte er bereits die Umrisse eines Schiffes sehen, welches am Ende des
Hafenbeckens lag. War das die ‚Good Journey’? Der Schiffsname war von hier noch nicht zu
erkennen. Doch es waren jetzt nur noch wenige Schritte. Sein Herz schlug schnell. Wieder sah
er auf die Uhr. Genau eine Minute vor Zehn. Er war angekommen und stand nun unmittelbar
vor dem Schiff. Es gab keinen Zweifel mehr. Das Namensschild wies dieses Schiff eindeutig
als die ‚Good Journey’ aus. Das Schiff lag seitlich am Landungssteg und die Brücke zum
Einstieg lag aus. Ohne lange zu Überlegen ging er auf den Steg zu. Als er vor dem Einstieg
ankam, erblickte er den Fremden aus der Kneipe.
„Schön, dass du hier bist, Harry. Du möchtest also deine neue Aufgabe antreten?“
Bedächtig nickte Harry.
Der Mann führte ihn auf das Schiff. Harry wusste nicht genau warum, aber ohne auch nur
eine Frage zu stellen, folgte er dem Mann auf das Oberdeck ins Freie.
„Wir legen nun ab, Harry. Schaue nicht zurück. Sondern blicke nach vorne. Dort liegt unser
Ziel.“
Harry spürte tief in seinem Innern, dass der Mann Recht hatte. Er wusste nicht genau, wie ihm
geschah, aber er wusste, dass er hier richtig war.
Als er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, merkte er auch schon, wie das Schiff abhob. Er
blickte nicht zurück. Er sah nach oben. Das Schiff steuerte auf den weit geöffneten Himmel
zu. Der unbekannte Mann neben ihm war nun kein Fremder mehr. Er erkannte ihn in seiner
wahren Gestalt. „Was hat dieser Engel doch für schöne, weite Flügel“, dachte er so bei sich.
Und dann wurde seine Freude endlos. Der Engel legte ihm den Arm um die Schulter. Beide
standen sie nun dort und blickten voller Erwartung in das helle Himmelslicht.
„Der Vater wartet auf dich, Harry, ich freue mich, dass ich dich abholen kommen durfte.“



Eckart Haase



zur Kurzgeschichte:
Das Regenbogenland
Nina und der Weihnachtszettel
Lukas und die Weihnachtsdiebe





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