Trauerwelten
- Auszug aus einem Jugendroman -





Trauerwelten


Leseprobe zu "Trauerwelten" von Tomas Cramer, 195 Seiten,
Isensee Verlag Oldenburg, ISBN 3-89995-350-3, ISBN 978-3-89995-350-3 (ab 2007), Preis 12,80





Die Strahlen der Abendsonne bahnen sich ihren Weg durch die Birkenzweige und Trauerweiden. Sie verwandeln den ganzen Friedhof in ein goldfarbenes Gräberfeld, dessen Erdboden bedeckt ist mit den gelbbraunen Blättern der feinästrigen Bäume. Um Theo herum raschelt und flüstert das Laub der Buchen, die den Verkehrslärm, der von den Straßen Cloppenburgs herüberschwappt, etwas dämpfen. Die hohen Bäume, die Theo heute das erste Mal zu sehen glaubt, lassen ihre herbstfarbenen Blätter noch etwas länger leuchten, bevor auch sie sich an der unausweichlichen Herbstdemonstration beteiligen.
Das bunte Fensterglas der Friedhofskapelle, durch das nur schemenhaft die Konturen des von der Decke hängenden Kreuzes zu erkennen sind, reflektiert den orangefarbenen Glanz der Sonne auf die Gesichter der Trauernden, die Mamas Grab umringen.
»Theodora, nimm jetzt die kleine Schaufel und wirf damit etwas Erde auf den Sarg«, flüstert Tante Elfi Theo ins Ohr (Theo hasst es, wenn Elfi sie bei ihrem vollständigen Vornamen nennt). Theo kann sich nicht rühren, keinen Millimeter den Arm bewegen, ja nicht einmal einen richtigen Atemzug holen! In ihrer Luftröhre sitzt ein dicker Kloß, angefüllt mit den entsetzlichen Gefühlen der Trauer - aber auch eine gehörige Portion Wut befindet sich darin.
»Warum soll ich Mama mit Erde beschmeißen? Sie hat nur Blumen verdient...«, stößt sie halblaut und gepresst hervor, unmittelbar bevor der Friedhof sich in eine dunkle, kreisende Totenkammer verwandelt und das Mädchen geradezu gierig zu sich herunterzieht. Theo blickt hilflos in die versteinerten Gesichter der vielen Freunde, Bekannten, Nachbarn, Arbeitskollegen und Verwandten ... dann ist der Filmriss da ... es ist finster vor ihren Augen.

Sie merkt keinen Aufprall! Hat man Theo im Fallen aufgefangen oder empfindet sie gerade keinen Schmerz? Das alles wird auf einmal bedeutungslos - Zeit und Raum entgleiten ihr. Sie glaubt zu schweben, fühlt sich plötzlich getragen von unendlicher Liebe.
Von irgendwoher hört sie Mamas vertraute Stimme, aber plötzlich entschwindet die Dunkelheit, wie eine schwarze Zauberdecke im Loch einer Trickkiste. Sie spürt, dass der Kloß im Hals sich langsam aufzulösen beginnt und ein süßliches Aroma freigibt. Dann flammt ein warmes Rot vor ihren Augen auf, Mamas Stimme wird übertönt von wirrem Stimmengemurmel, dessen Herkunft Theo überhaupt nicht einordnen kann.
Auf einmal hört sie ihr eigenes Herz schlagen, als sei es ihr den Hals aufwärts gerutscht. Ein Schwall heißen Blutes durchströmt ihren Körper, der sie wieder zu Bewusstsein kommen lässt. Theo öffnet nun die Augen und sieht unzählige Gesichter auf sie herunterschauen, kreisförmig aneinandergereiht, fast Ohr an Ohr, aufgezogen wie auf einer Perlenkette.
»Gibt’s hier irgendwas umsonst?«, krächzt Theo benommen. Ihr Gesicht ist weiß wie Kreide.
Statt einer Antwort kommt Leben in die Steingesichter und sie beginnen zu lächeln. Theo grinst etwas erleichtert zurück: Nicht weil sie sicher in Paps Armen liegt oder alle so schrecklich besorgt um sie sind, sondern weil sie glaubt Mamas Stimme gehört zu haben!

Paps richtet sie wieder auf und klopft die Erdkrümel von ihren Hosenbeinen.
»Lass das, bitte!«, wehrt Theo sich mit gekrauster Stirn und schüttelt empört den Kopf. »...bin doch kein kleines Kind mehr...!«
»Beinahe wärst du ins Grab gefallen!«, meint Elfi und Paps fügt hinzu:
»Ich konnte dich gerade noch auffangen. So glaub mir doch endlich, das hier ist einfach zu viel für dich... Der Schock über Mamas Tod sitzt dir viel zu tief in den Knochen. Du hättest zu Hause bleiben sollen, vielleicht auch bei Onkel Bernd, der mit einem Hexenschuss auf dem Sofa liegt. Aber du wolltest ja unbedingt bei der Beerdigung dabei sein. Das ist einfach zu viel für eine Vierzehnjährige...«, tadelt er sie mit brüchiger Stimme.
»Wie wär’s mal mit ’ner Tonstörung? Das hat doch mit meinem Alter nichts zu tun!«, unterbricht Theo ihren Paps. Das Krächzen in der Stimme hat nachgelassen. Paps lächelt angestrengt locker, sie weiß nicht, ob aus Verlegenheit oder Erleichterung, wahrscheinlich ein wenig von beidem.
Ihre Flapsigkeit wird sie wohl nie ablegen, denkt Paps, bevor Theo nachschiebt:
»Das alles geht übrigens auf meine Kappe! Du weißt ganz genau, dass ich unbedingt hier sein muss! Ich passe auf, dass die Beerdigung so abläuft, wie Mama sie gern gehabt hätte.«
Theo zieht eine hellbraune Haarsträhne hinters Ohr, die schmale Brille verrutscht dabei ein wenig. Völlig unbeeindruckt von den Zuhörern, die noch immer um sie herumstehen, sprudelt es nur so aus ihr heraus:
»Warum ist überhaupt alles so weit gekommen? Warum musste ausgerechnet Mama sterben? Was haben die vielen Medikamente denn gebracht, die sie schlucken musste, obwohl die ihr gar nicht bekamen? Täglich hat sie sich übergeben müssen, sie hing ja nur noch über der Porzellanschüssel ... warum hat Gott Mama sterben lassen - warum? Warum beten wir eigentlich noch? Waren wir nicht immer eine gläubige Familie - was haben wir denn davon? Das macht doch alles gar keinen Sinn...!«
Theo hadert mit dem Schicksal - mit Gott und der Welt. Sie vergräbt ihr Gesicht in Paps schwarzem Mantel, der alles andere als weich ist. Paps drückt Theo fest an sich, aber er bringt kein einziges Wort heraus. Er ist tieftraurig und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass er das ganze letzte Jahr ungeschehen machen könnte. Es fällt ihm sehr schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Theo merkt, wie drei oder vier seiner Tränen auf ihr Haar tropfen - sie spürt seine Sprachlosigkeit.
In den letzten Wochen hatte sie ihn sehr oft weinen sehen, auch wenn er es zu verbergen suchte. Weil Theo Mamas Krankheit nicht akzeptieren wollte, konnte sie bisher keine Träne vergießen - langsam macht sich deswegen ein schlechtes Gewissen breit. Sie weigerte sich beharrlich Traurigkeit aufkommen zu lassen, weil Mama immer so stark wirkte und felsenfeste Zuversicht ausstrahlte. Allerdings, muss sie rückblickend zugeben, verblasste Mamas Zuversicht in den letzten Wochen ihres Lebens zusehends.

Der goldene Schein der Sonne, der soeben noch einmal den Friedhof erfüllt hatte, verkümmert augenblicklich zu abendlichem Dämmerlicht. Die Birken recken ihre hängenden Zweige über die Gräber, als bekundeten sie schweigend ihr Beileid. Rasch treiben einige langgezogene Wolkenfetzen über dem Ort der Trauer dahin, als brächten sie auf diese Weise zum Ausdruck, dass sie das alles nichts angehe. Ein kühler Ostwind lässt die letzten Friedhofsbesucher entschwinden.
Das funzlig-dämmrige Licht in der Kapelle erlischt. Quietschend hallt das Drehen eines Schlüssels in einem verrosteten Türschloss über den ganzen Friedhof. Schemenhaft erkennt Theo den Küster, wie er sich auf sein Rad schwingt und davon radelt, zu seiner Familie, seinen Kindern und zu seiner Frau...
Theos Augen füllen sich nun endlich mit Tränen. Paps legt beruhigend seinen Arm um ihre verkrampften Schultern, dann gehen sie zum Parkplatz, um gemeinsam mit dem Auto nach Emstekerfeld zurückzufahren, wo Mama nicht mehr auf sie wartet.
»Warum?«, flüstert Theo in die Dunkelheit hinein, ohne dass Paps es hören kann: »Warum nur?« [...]




Tomas Cramer







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