Die christliche Jugend der 20er Jahre
- Erbauliches aus der Zeit vor 80 Jahren -



Wie der Herr mich führte (1)
Von Charles Stanley. Bericht aus der christlichen Jugendzeitschrift "Die Tenne" aus dem Jahr 1924







Abbildung "Wie der Herr mich führte"



Wie kostbar und wahr ist das Wort des Herrn zu Mose: "Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen werde." Der Verfasser nachstehender Erzählung will zur Verherrlichung des Herrn, der ihm Gnade erwiesen hat, seine Wege mit ihm berichten, Wege einer unumschränkten Gnade.
Obgleich ich als Kind wenig Gelegenheit hatte, etwas zu lesen, besaß ich doch großes Interesse für Bücher und lernte gerne. Eines Tages sagte ich gelegentlich in Gegenwart einer armen Frau, daß ich Bücher über alles liebe und doch nichts zu lesen hätte. - "Wie", fragte sie, "dort liegt das Wort Gottes auf dem Tisch, und du klagst, du hättest nichts zu lesen?!" Sie sagte nichts weiter, aber ich konnte diese Worte nicht vergessen, denn ich besaß, obwohl ich erst zwölf Jahre alt war, eine gute Kenntnis des Wortes Gottes. In jenen Tagen war die Bibel nämlich das Lesebuch in der Dorfschule. Der Geist Gottes zeigte mir dadurch, wie wenig mein Herz nach ihm fragte.
Es wurde mir plötzlich klar, daß ich ein Sünder war, wovon ich bis dahin nichts gewußt hatte, und wie das im allgemeinen bei solchen, die keine Erfahrungen von dem ganzen Verderben ihres Zustandes gemacht haben, der Fall zu sein pflegt, begann ich nun religiös zu werden und große Anstrengungen zu machen, mich zu bessern. Was mich sehr in Erstaunen versetzte, war, daß ich, je mehr ich dies versuchte, nur desto schlechter wurde. So ging es monatelang. Da war niemand in der ganzen Gegend, der mich auf das vollbrachte Werk Christi hinweisen konnte. Alle, die Interesse für göttliche Dinge zu haben schienen, bemühten sich, ihre Errettung sich zu erarbeiten. Aus der Schrift wusste ich, daß es einen Frieden mit Gott gab, den ich aber durch mein eigenes Tun und meine Anstrengungen nicht erlangen konnte. Nach Monaten, die ich in Kämpfen und Niedergeschlagenheit verbrachte, befand ich mich in einer dunklen, regnerischen Nacht auf dem Weg nach Hause. Da wurde die Last meiner Seele so groß, daß ich auf der Straße auf mein Antlitz niederfiel und ausrief: "O, Herr, ich kann nichts mehr tun!" Und ein tiefes Gefühl, daß ich verloren war, kam über mich. Als ich allein auf der einsamen Landstraße lag, offenbarte mir der Geist Gottes das vollbrachte Werk Christi. Damals erkannte ich, daß das, was ich vergeblich zu tun versuchte, bereits durch meinen kostbaren Stellvertreter am Kreuz vollbracht war. Ich erinnere mich nicht, mehr als das erkannt zu haben, aber wie Israel in Ägypten fand ich Schutz und Sicherheit hinter dem kostbaren Blute. Als ich mich vom Boden erhob, war ich - darüber habe ich keinen Zweifel - eine neue Schöpfung in Christus Jesus. Ich war durch den Geist geboren, aber was das Fleisch ist, das habe ich erst nach und nach, oft durch bittere Erfahrungen, lernen müssen.
Sowie ich bekehrt war, verlangte mich sehr nach Gemeinschaft mit Christen. Aber in der Dorfkirche wurde mir nur eine Predigt von 15 bis 20 Minuten Dauer einmal in der Woche geboten. Ich entsinne mich nicht, dort irgend jemand kennen gelernt zu haben, der die Gewißheit der Sündenvergebung gehabt hätte. Hie und da hatte ich auswärts Gelegenheit, andere Predigten zu hören, war mitunter ergriffen durch Gesang und Gebet, aber überall vermißte ich die Verkündigung der Tatsache des vollbrachten Werkes Christi, durch welches Gott meiner eigenen Seele Frieden verkündet hatte. Ich hatte überdies bei meiner Bekehrung und stets seitdem ein tiefes Gefühl von der Unumschränktheit Gottes und fühlte bald, daß das in der Predigt zu sehr beiseite gelegt wurde.
Heute weiß ich, wonach meine Natur verlangte: Nach Gemeinschaft mit Kindern Gottes, getrennt von der Welt. In jener Zeit entstand in einem benachbarten Orte eine kleine Gemeinschaft von Christen, und dort predigte man in dem Sinne, wie mich der Heilige Geist auf jener einsamen Landstraße belehrt hatte. Gottes Gnade wirkte und viele Seelen wurden zu Gott bekehrt. Es war in Laughton-Yorkshire, im Jahre 1835. In diesem Jahre - ich war damals vierzehn Jahre alt - traf es sich eines Tages, daß der Prediger nicht kommen konnte. Damals öffnete mir der Herr zum erstenmal den Mund, um einer in Sünden verlorenen Welt von Seiner wunderbaren Liebe zu erzählen. Der Text war Joh. 3,16.
Als ich nach mehr als vierzig Jahren das Dorf wieder besuchte, traf ich zufällig einen Mann, der sich jener Rede und des Textes noch gut entsann. Es ist mir heute interessant, mich nach so langer Zeit - es sind dreiundfünfzig Jahre vergangen - daran zu erinnern, daß in meiner ersten Predigt das, was Gott für uns im Herzen hat, der Gegenstand war: "Gott hat so geliebt". Nicht darauf kam es, noch kommt es an, was wir für Gott sind. Wäre das der Fall, so würde ich tausendmal seitdem verloren gegangen sein. Nein, wenn meine Errettung von dem abhinge, was ich für Gott gewesen bin, ginge ich für ewig verloren. In meinem Fall konnte nichts Geringeres, als ein unendlicher Heiland meinen Sünden und Bedürfnissen entsprechen.

Ich möchte nun erzählen, wie Gott mich als ein Gefäß der Gnade für sein Werk erzogen und vorbereitet hat. Meine Eltern habe ich kaum gekannt, da ich schon mit vier Jahren verwaist war. Infolgedessen wurde ich von meinem Großvater erzogen, einem Manne von größter Unbescholtenheit. Von meinem siebenten Lebensjahre an mußte ich schon im Sommer teilweise mein Brot durch Feldarbeit selbst verdienen, im Winter ging ich in die Dorfschule. Als ich elf Jahre alt war, nahm mich ein vornehmer Herr in sein Haus auf. Zwei Jahre lang erhielt ich von ihm einen ausgezeichneten Unterricht, indem er mich in allem, was durch Beobachtung gelernt werden konnte, unterwies und mich mit dem Garten, den Ställen, mit den Pflichten eines Dieners usw. vertraut machte. Eines Tages sagte er z.B.: "Karl, ich gebe dir drei Stunden Zeit, um eine Krähe zu fangen." Ein andermal ließ er mich eine Brut Rebhühner aufjagen. Zuweilen forderte er sofort Antwort auf eine schwierige Frage, z.B.: "Wie entsteht eine Sonnenfinsternis?", worauf ich ihm antwortete: "Bringe ich meinen Kopf zwischen diese Lampe und Ihren Kopf, so können Sie das Licht nicht sehen; genau so verhält es sich, wenn der Mond zwischen uns und der Sonne ist." Unter anderem mußte ich auch manchmal im Wohnzimmer eine Predigt vorlesen. Dies tat ich stets mit großer Feierlichkeit, denn Gott hatte schon als Kind an meiner Seele zu arbeiten begonnen. Es würde zuviel Raum beanspruchen, wollte ich auf alle Einzelheiten aus jener Zeit eingehen. Mir ist, als wäre es gestern gewesen, als er mir eine lange Rede zum Abschied hielt. Seine letzten Worte waren: "Karl, du wirst entweder ein Fluch oder ein Segen für die Menschheit werden." Ich bin überzeugt, daß ich bestimmt das erstere geworden wäre, wenn Gottes Gnade mich nicht bewahrt hätte. Und wenn in einem geringen Maße das Letztere eingetreten ist, so sei Gott allein die Ehre. Sicher hat Er die Freundlichkeit dieses Herrn zum Segen für mein ganzes späteres Leben benutzt.
Als ich von ihm fortgegangen war, setzte ich mich im Felde auf einen Stein und weinte. Ich sah ihn nie wieder. Dreißig Jahre später wurde ich noch einmal in jene Gegend geführt und sah den alten Diener meines Herrn wieder. Wir waren uns während dieser Jahre nicht mehr begegnet. "Wie seltsam, daß Sie kommen," rief er aus; "ich las soeben in einem Traktat von Ihnen. Dieses Schriftchen gab mir mein Herr, bevor er starb, und sagte zu mir: "Thomas, nimm dies und behalte es. Gott hat mir dadurch gezeigt, daß ich mich mein ganzes Leben lang geirrt habe. Ich glaubte, ich müßte viel für Gott tun, jetzt aber sehe ich, daß es alles nur Gottes Güte um Christi und seines Werkes willen ist." Mit Dank gegen den Herrn darf ich hinzufügen, daß auch der alte Thomas zum Herrn und zur Ruhe in Seinem vollbrachten Werk geführt wurde.
Forts. folgt



Hier gelangen Sie zu den Beiträgen aus der "Tenne", allesamt von 1924:


  1. Wie der Herr mich führte (1)
  2. Wie der Herr mich führte (2)
  3. Wie der Herr mich führte (3)
  4. Biblische Fragen und Antworten (1)
  5. Der Schlag auf die rechte Wange
  6. Sankt Stephan (Gedicht)



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