Die Rückkehr des Lebens
- oder: Gott zeigt sich von seiner Schokoladenseite -






Die Rückkehr des Lebens


 

Der Tag war gekommen. Es war ein kalter verregneter Sonntag am Ende dieses Jahres und mein Herz klopfte so wild, so wild, wie meine Faust an seine Tür hämmerte. Ich klopfte noch fester, in der Hoffnung, den alten Bischof noch einmal vor meiner Abreise sprechen zu dürfen. Ich lehnte mein Ohr an die Tür und horchte ins Innere des alten Hauses. Schlurfend näherte er sich der verzogenen Eichentür und öffnete sie gemächlich mit einem ehrfürchtigen Knarren. Bischof Henri war 78 Jahre alt und er besaß das Charisma eines Mannes Gottes, dem es nachzueifern mein größter Wunsch geworden war. Sein Haar war weiß wie Schnee und seine Ohren so schlecht, wie sie im Alter nur sein konnten. 53 Jahre lang lebte Bischof Henri in einem kleinen französischen Städtchen an der Loire und diente seinem Gott mit Ausdauer und freudigem Herzen. Vor drei Jahren kehrte er in sein Heimatdorf zurück, um den wohlverdienten Ruhestand anzutreten. Seit diesem Tag war mir der Bischof zu einem engen Freund geworden, obgleich uns 52 Jahre der Lebenserfahrung trennten oder vielleicht sogar vereinten, wie mir schien. Viele Male schon war ich bei ihm, saß auf dem alten braunen Ledersessel, dessen Federn mich im Hinterteil piekten, und lauschte seinen Geschichten. Weisheiten, die sich tief in mein Herz einbrannten und in mir den Wunsch gebaren, eines Tages mit derselben Würde alt werden zu dürfen wie er. Heute, am Tag meiner Abreise, wollte ich mir seinen wohltuenden Segen spenden lassen. Ich gedachte, ihm eine letzte Frage hinsichtlich der Besonderheit jenes geheimnisvollen Ortes zu stellen, in dessen Kirche er so viele Jahre seinen Dienst verrichtete und die auch mir auf unbestimmte Zeit die Möglichkeit der Verherrlichung meines Herrn bieten sollte.

„Hallo Guillaume, mein guter Freund. Entschuldige, dass du warten musstest, aber meine Gelenke knarren bisweilen wie jene alte Tür. Heute ist dein großer Tag, ich weiß. Komm nur herein und frag, was dein Herz zu wissen begehrt.“

„Lieber Bischof, ich danke Ihnen für ihre Freundlichkeit, und ich bin so aufgeregt, das mir der Atem stockt, doch eines wünsche ich noch von ihnen zu erfahren. Sie haben mich viel über Güte gelehrt, über Toleranz und Barmherzigkeit und über die Liebe zum Nächsten. Sie haben mir von der Verwandlung eines Sünders zu einem Heiligen erzählt, und doch haben Sie nie erwähnt, wie es zu jener denkwürdigen Auferstehung des Lebens in Monistrol-sur-Loireegekommen ist. Ich weiß so wenig über das Dorf, in das ich zu reisen beabsichtige, und ich bitte Sie ein letztes Mal, mir die Geschichte von dem Comte de Reynaud zu erzählen.“

Der alte Mann führte mich in sein bescheidenes Heim und wies mir den Platz zu, den ich schon so viele Male eingenommen hatte.

Mit ruhiger Stimme begann er zu erzählen, auf jene Weise, die ich so liebte, die meine Aufregung verschwinden und alles andere um mich herum vergessen ließ. Mit ruhiger Stimme begann er zu sprechen und schaute mir direkt in die Augen. „Es waren nunmehr fünf Wochen her, dass ich als Père Henri meinen Dienst in der kleinen Gemeinde von Monistrol aufgenommen  hatte. Wie du weißst, hielt ich es für meine vornehmlichste Aufgabe, Gott als Verkünder seines Wortes zu dienen und so begab es sich, dass der Bischof von Paris mich für die Nachfolge des ehrwürdigen Père Michel auserwählt hatte. Dieser war - Gott hab ihn selig – kurz zuvor Heim gegangen und es bestand ein dringender Bedarf, den Menschen in Monistrol weiterhin in Wort und Tat beizustehen. Nun, man befand, dass mir diese Aufgabe zufallen sollte, obgleich ich erst 22 Jahre alt war. Ich bekam jedoch tatkräftige Unterstützung vom hiesigen Bürgermeister, dem Comte de Reynaud. Der Comte war, wie es schien, ein gottesfürchtiger Mann. Gradlinig, gut gekleidet und stets mit der nötigen elégance verrichtete er seinen Dienst in seiner Stadt. Er war von allen Bürgern des Dorfes geschätzt und insgeheim als geistiges Oberhaupt anerkannt. Er bot sich mir regelmäßig an, meine Predigten mit, wie er meinte – ein, höchstens zwei, kleinen Korrekturen – zu versehen, um ihr seinen für ihn typischen, unverwechselbaren, moralischen Akzent zu verleihen. Die Wochen vergingen und ich lebte mich in der Gemeinde von Monistrol sehr gut ein. Die Fastenzeit hatte soeben begonnen, eine Zeit der Enthaltsamkeit, der Besinnlichkeit und eine Zeit der Reue. Nichts störte den normalen, geschätzten Verlauf jener durch „Tranquillité“  geprägten Tage, wäre da nicht die Ankunft einer hübschen Frau und ihrer Tochter gewesen. Sie hieß Vianne und bezog das leerstehende Haus, das Armande Voizin gehörte. Sie richtete dort hinter verschlossenen Türen und verbarrikadierten Fenstern ein geheimnisvolles Geschäft ein, von dem alle glaubten, es werde eine Pâtisserie. Doch es war mehr als das. Es war eine Chocolaterie – und die Eröffnung erfolgte, wie bereits erwähnt, unmittelbar in der Fastenzeit. Nun, der Comte war über diese Tatsache aufs Äußerste pikiert, eine solche Schamlosigkeit, ein Schlag ins Gesicht des Antlitzes Jesu, so glaubte er, obgleich mir jene Person und ihr Etablissement nicht dieselbe Entrüstung entlockte. Im Gegenteil. Die Bewohner dieses Dorfes durchlebten langsam eine sonderbare Veränderung, als wachten sie aus einem langen Schlaf auf. Die düstere Wolke der religiösen Ermattung lichtete sich allmählich und der Odem des Lebens kehrte in die Herzen der Menschen zurück. Trotz meiner, damals erst kurzen Amtszeit, gewann ich diese Leute lieb, alle, einen jeden auf seine Art. Da war zum Einen die besagte alte Armande, die aufgrund ihrer frivolen Leichtlebigkeit die Gemüter erhitzte und von ihrer Tochter am liebsten ins Heim für pflegebedürftige alte Leute gesteckt worden wäre, oder Josephine Muscat, die unter der launenhaften Zucht ihres trinkfreudigen Mannes Sergè litt und die dem allem lieber heute als morgen zu entfliehen gedachte. Dann gab es noch Madame Audel, die noch immer in Trauer um ihren Verblichenen war, nur dass dieser bereits 40 Jahren zuvor von ihr gegangen war. Alle diese Menschen begannen schüchtern ihr Leben neu zu genießen, in einer Zeit, als der nahende Frühling seine erwärmenden Sonnenstrahlen als Vorboten des Sommers auf die Erde schickte. War es nur die belebende Schokolade, die die Bewohner dieses Städtchens zeitweilig, überwiegend in Verschwiegenheit, zu kosten gedachten oder war es der Gott, dem ich diente, der auf seine eigene humorvolle Art, paradoxerweise inmitten der Fastenzeit, die Lebensfreude durch den simplen Genuss einer Süßigkeit zurückschenkte? Man hörte wieder fröhliches Lachen in den Gassen, gelegentlich wurde wieder getanzt, und alle begrüßten das neue Leben, bis auf einen – den ehrbaren Comte de Reynaud. Er flehte Gott um Hilfe an und erbat sich Wegweisung in dieser ruchlosen Zeit. Sein vergrämtes Herz war voller Kummer, seit seine Frau nach Venedig gegangen war, und zwar nicht nur zur Erholung, wie er alle Leute glauben machen wollte, sondern für immer, um dieser verhassten Tranquillité zu entfliehen. Sein verletzter Stolz kränkte ihn tief, doch ein Mann seines Amtes durfte keine Schwäche zeigen, erst recht nicht in Zeiten wie jenen, in denen das Volk eine klare Führung durch die Wirrungen der Versuchungen von ihm erwartete. Dies war sein Kampf, ein heiliger Kampf. Recht und Ordnung, Moral und Anstand, das waren die Eckpfeiler jeder gesunden Gesellschaft und die galt es, unter allen Umständen aufrecht zu erhalten.

Und an diesem Tag geschah das Wunder. Fest entschlossen schritt der Monsieur de Renault im Schutz der Dunkelheit zum Haus von Vianne. Er verschaffte sich durch das Kellerfenster unrechtmäßigen Zutritt in ihr Haus und erreichte das Ziel all seines Hasses, den Fels des Anstoßes schlechthin, die Ursache jedweder Versuchung, ja, für ihn, die Verkörperung des Teufels schlechthin. Mit dem Dolch der Vergeltung stürzte er sich auf die verlockend geschmückte Auslage der Chocolaterie und zerstach mit der Verzweiflung eines Verlierers die Torten und Pasteten. Er weinte sich allen Kummer eines von einer Frau und von Gott verlassenen Mannes von der Seele, bis zu dem Augenblick, an dem er das größte Geschenk seines Lebens entgegen nehmen durfte.

Er schmeckte die Schokolade auf seinen Lippen. Der Feind, der ihm zum Freund wurde. Er fraß sich voll damit im Rausch des Bewusstseins seiner tiefgreifenden Sünde. Nicht jedoch jener, der Versuchung gegen die Verlockung des Süßen erlegen zu sein, sondern der Sünde der Überheblichkeit, der menschengemachten Religiosität, die die Gebote und Satzungen am Leben erhält, obgleich sie Gott der Herr längst vernichtet hatte. Aber mehr noch offenbarte sich ihm die Sünde des Anspruchs der Unfehlbarkeit, in deren höhnische Fratze er blickte, während er sich der Wolllust ergeben musste und darüber inmitten des Schaufensters der Chocolaterie in der Nacht zu Ostersonntag einschlief.

Dies war der Tag meiner Befreiung. Durch diesen Umstand seiner Verfehlung war es ihm nicht möglich, das Werk „seiner“ Predigt zu vollenden und gab mir dadurch die Möglichkeit, die Ketten abzustreifen, die er mir einige Wochen zuvor angelegt hatte. Er saß fortan nicht mehr rezitierend in der ersten Reihe, sondern man fand ihn mit feuchten Augen sitzend in der letzten Reihe, gleich einem reuigen Sünder, dem das Leben durch die Vergebung neu geschenkt wurde. Dieser Ostersonntag, der Tag der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus, war auch der Tag der Auferstehung unserer Stadt. Neues Leben hatte begonnen. Der Frühling erreichte uns, so wie er die Blumen, die Vögel und die gesamte Schöpfung erreichte.

Der Comte war verwandelt, Vianne wurde geliebt und Schokolade wurde zum Werkzeug Gottes, unseres humorvollen und weisen Herrn, dem ich bis zum heutigen Tag gedient habe.
Und nun, mein lieber Guillaume, sei guten Mutes und ziehe in jenes Dorf und horche in die Gassen und Winkel, welche Geschichten sie dir zu erzählen haben
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© Jörg S. Gustmann






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