Das Regenbogenland
- und eine geheimnisvolle Leiter -





Das Regenbogenland





Anita war inzwischen fast schon eine junge Frau. Nun ja, zumindest sagten ihr das manche
ihrer Verwandten. Sie selbst fühlte sich mit ihren elf Jahren immer noch wie ein Kind. Wie
ein ganz normales Kind, das in Grünland geboren wurde, hier zum Kindergarten ging und nun
die weiterführende Schule besuchte. Ihre Haut war hellgrün, etwas heller als die Haut der
meisten anderen Kinder aus ihrer Klasse. Ganz abgesehen von der satten, dunkelgrünen Haut
ihrer Klassenlehrerin. Aber sie war schon alt und stand kurz vor der Pensionierung. Es kam
oft vor, dass die älteren Menschen in Grünland mit der Zeit eine immer dunklere Hautfarbe
bekamen. Aber es gab natürlich Ausnahmen. Anitas Mutter war schon fast 40 und ihre Haut
schimmerte immer noch in einem zarten Hellgrün, welches in der Sonne glänzte und sogar
leicht blendete, wenn man nur lange genug hinsah.
Anitas Augen waren natürlich auch grün. So wie eben alles in Grünland grün war. Das war
normal und niemand in dem kleinen Dorf wunderte sich darüber. Alle Häuser waren grün, die
Möbel ebenso und auch der Himmel war grün. Sicher – das Grün kam in den verschiedensten
Variationen vor. Es reichte von einem ganz hellen, gleißenden Grün, das fast schon ins Weiße
ging, bis hin zu einem tiefen, dunklen Grün, das schon beinahe in Schwarz überging. Aber das
änderte nichts daran dass in Grünland alles grün war. Morgens, wenn die Sonne aufging,
sorgten ihre wunderschönen hellen Strahlen dafür, dass aus dem Dunkelgrün der Nacht ein
schöner hellgrüner Tag erwuchs. So ein Tag eben wie heute. Es war Sonntag. Also war
schulfrei und Anita wollte sich nach dem Mittagessen mit ihrer besten Freundin Sophie
treffen. In letzter Zeit steckten die beiden öfter zusammen. Sie kannten sich schon vom
Kindergarten her und saßen auch in der Schule nebeneinander. Sie waren einfach
unzertrennlich. Bis vor kurzem trafen sie sich vornehmlich deshalb, um mit ihren Puppen zu
spielen. Beide verfügten über ein stattliches Arsenal an Spielzeug, das nach jedem
Geburtstags- oder Weihnachtsfest wieder etwas größer wurde. So war es bisher selten
passiert, dass einmal Langeweile aufkam. Doch in letzter Zeit änderte sich das. Niemandem
war es zunächst aufgefallen, selbst Anita und Sophie nicht. Aber wenn sie sich trafen,
widmeten sie sich kaum mehr ihren Puppen. Wenn überhaupt, dann spielten sie ein paar
Minuten und probierten neue, grüne Puppenkleider aus, aber dann interessierte sie das ganze
Spielzeug nicht mehr. Ihnen war viel mehr danach, die idyllische Gegend zu erkunden.
Sicher, Grünland war überschaubar. Es gab einen Dorfkern mit all seinen Geschäften, es gab
die lang gezogene Hauptstraße an der die meisten der knapp 1000 Dorfbewohner ihre Häuser
hatten. Und es gab ein großes Hinterland, das bis zu den Dorfgrenzen reichte. Das Hinterland
war mindestens doppelt so groß wie der bewohnte Rest. Dort gab es eine üppige Flora, mit
Bäumen, Büschen und allerlei Gestrüpp. Manche Stellen waren so dicht bewachsen, dass sie
nahezu unzugänglich waren. Und inmitten eines kleinen Waldes, ziemlich tief im Hinterland,
gab es eine Lichtung. Sie war nicht sehr groß, vielleicht zehn Schritte in jeder Richtung. Und
direkt in dieser Lichtung stand eine Leiter. Es war eine grüne Leiter – versteht sich. Sie stand
dort schon viele Hundert Jahre. Sie war sehr massiv und ihre Sprossen waren dick und stabil.
Das Ende der Leiter war von unten nicht zu sehen. Zu hoch reichte sie in den Himmel hinein.
Selbst mit einem Fernglas konnte man nicht erkennen, wohin die Leiter führte. Sie war auch
nirgends angelehnt. Zumindest an nichts, was man von hier unten sehen konnte. Sie stand
einfach da, unerschütterlich und führte an einen unbekannten Ort.

Und an dieser Leiter standen Anita und Sophie nun. Denn dies war ihr ständiger Treffpunkt
der vergangenen Tage. Während ihrer Erkundungstouren waren sie eines Tages zu dieser
Leiter gekommen. Sie fragten sich natürlich, wohin sie führte. Aus irgendeinem Grund trauten
sie sich nicht selber hochzuklettern. Vielleicht weil kein Ziel zu erkennen war. Die Leiter war
so groß und lang, man könnte meinen, man würde monatelang klettern, um oben
anzugelangen. Also fragten die beiden ihre Eltern nach der Leiter. Denn die müssten es ja
eigentlich wissen. Doch ihre Eltern sagten, dass die Leiter immer schon da gewesen sei. Es
seien schon hin und wieder Kommandos hoch geschickt worden. Aber diese wären nie weit
gekommen. Es war immer so, dass diejenigen, die den Aufstieg wagten, kletterten und
kletterten aber nie vorankamen. Einige kletterten Stundenlang, kamen aber nie wirklich
weiter. Dann kamen sie wieder herunter. Die Dorfbewohner hatten sich eines Tages damit
abgefunden, dass die Leiter ins Nichts führte. Der Bürgermeister hatte beschlossen, dass man
die Leiter nicht länger beachten und sich lieber den Dorfangelegenheiten widmen sollte.
Und so geriet die Leiter langsam in Vergessenheit und niemand versuchte jemals mehr, sie zu
erklimmen.
Anita und Sophie hatte diese Antwort nicht zufrieden gestellt. Sie wollten nur zu gerne
wissen, was sich am Ende der Leiter verbarg. Denn ehrlich gesagt, das grüne Einerlei der
Dorfwelt begann sie zu langweilen. Einmal sagte Anita zu Sophie, dass das doch nicht alles
sein könne, was es gebe. Das Dorf wäre ja ganz schön, aber alles sei so gleich, so glatt, so
grün. Natürlich gab es Abwechslung, es gab helles grün, es gab dunkles grün, es gab mattes
grün, es gab leuchtendes grün und es gab auch gemustertes Grün. Aber dennoch war alles
grün. Die Vögel, die zwitscherten waren grün, das Wasser war grün und sogar die Schokolade
war grün. Sophie gab ihr Recht. Sie dachte genau so wie Anita. Sie konnte sich einfach nicht
vorstellen, dass diese Welt ihr ewiges Schicksal bleiben sollte. „Ist der Horizont hier schon zu
Ende?“, fragte sie Anita. Anita bezweifelte es. „Komm“, sagte sie, als sie nun an dieser Leiter
standen, „wir wollen das Undenkbare wagen. Lass uns hinaufklettern. Wir wollen wissen,
wohin der geheimnisvolle Weg führt!“
Sophie war sofort dabei. Sie einigten sich darauf, dass Anita vorangehen und Sophie ihr
knapp dahinter folgen solle. Die erste Sprosse war sehr hoch und Anita schaffte es nicht, sie
alleine hochzukommen. Aber schließlich waren sie ja zu zweit. Per Räuberleiter hievte Sophie
ihre Freundin nach oben. Sie stand nun auf der untersten Stufe. Es konnte losgehen. Langsam
aber zielgerichtet machten sie sich auf den steilen Weg. Sie erklommen Stufe um Stufe. Es
ging immer weiter nach oben. Sophie blickte hin und wieder nach unten. Sie sah, wie sie sich
immer weiter vom Boden entfernten. Doch plötzlich, als sie wieder einmal nach unten sah,
merkte sie auf. „Du, ich kann mich täuschen, aber ich glaube in den letzten zehn Minuten sind
wir kein Stück vorangekommen. Es sieht immer noch aus wie beim letzten Mal“. Beide
fanden es eigenartig, aber sie beschlossen, weitere zehn Minuten zu klettern und dann die
Lage erneut zu überprüfen. Doch das Ergebnis blieb das Selbe. Sie waren zwar geklettert,
aber keinen Meter mehr vorangekommen.
Ratlos standen sie nun da. Sollten sie wieder hinunterklettern, so wie die vielen
Dorfbewohner, die es auch schon bis hier geschafft hatten?
„Nein!“, rief Anita plötzlich laut aus, „wir gehen nicht wieder zurück! Wir wollen bis zum
Ende! Hörst du? Wer auch immer da oben ist, wir möchten zu dir kommen! Wenn du uns
hörst, dann hilf uns bitte nach oben zu kommen! Wir wollen zu dir!“
Das rüttelte die beiden noch mal richtig auf. Sie beschlossen weiter zu gehen. Diese Leiter
führte irgendwo hin. Und sie wollten herausfinden, was das für ein Ort war.
Und tatsächlich. Das Wunder geschah, als sie sich wieder in Bewegung setzten, kamen sie
auch wieder voran. Sophie sah, wie der Boden unter ihnen immer kleiner wurde. Ja, sie hatte
sogar den Eindruck, dass sie nun schneller vorankamen als vorher. Und so kletterten und
kletterten sie. Inzwischen war vom Boden unter ihnen nur noch ein winziger Punkt zu sehen.
Und auf einmal verschwand auch dieser. Sie sahen bereits Wolken um sich. Hin und wieder
flog ein Vogel unter ihnen vorbei. Wie hoch mochten sie nun schon gekommen sein?
Und dann stockte ihnen der Atem. Unfassbar sahen sie beide ein paar Meter über sich eine
Falltür. Nur noch wenige Stufen und sie konnten sie berühren. Es war eigentlich keine Falltür,
denn sie führte ja nach oben. Aber jedenfalls gab es dort einen Griff mit einem Mechanismus,
der ganz offensichtlich dazu da war, die Türe zu öffnen. Sie zögerten kurz. Die Spannung war
schier unerträglich. Doch schließlich fasste sich Anita ein Herz und drehte den Griff herum.
Und tatsächlich: Die Türe öffnete sich. Als sie ganz offen war und die Klappe den Zugang
nicht mehr blockierte, traten sie in die Öffnung ein. Sie hatten wieder festen Boden unter den
Füßen. Die Leiter war hier zu Ende. Sie waren da! Doch was war das? Ungläubig schauten sie
sich um. Sie waren nicht mehr fähig, auch nur ein Wort herauszubekommen. Mit offenen
Mündern sahen sie das Unglaubliche und es traf sie mitten ins Herz. Hier war nicht alles grün.
Im Gegenteil. Sie waren von den Schillernsten Farben umgeben. Ein riesiger Regenbogen
zeichnete sich am Himmel ab und erstrahlte in Farben, die Anita und Sophie noch nie gesehen
hatten. Alles leuchtete so intensiv, wie es ihre Vorstellungskraft nicht für möglich gehalten
hätte. Die Schönheit dieser Umgebung war mit Worten nicht zu beschreiben. Es war eine
andere Welt, eine Welt, die sie plötzlich veranlasste von ganzem Herzen zu hüpfen. Sie ließen
ihren Herzen freien Lauf. Sie erinnerten sich, was sie in der Schule gelernt hatte. Die Worte
kamen jetzt wieder in ihnen hoch:
„Aber euch, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne
der Gerechtigkeit aufgehen, und Heilung ist unter ihren Flügeln. Und ihr werdet hinausgehen
und umherspringen wie Mastkälber“
(Die Bibel, Maleachi 3,20).
Sie waren angekommen. Hier wohnte also Gott. Sie wussten, was sie jetzt tun wollten. Sie
gingen auf den nahen Vater zu, dessen Angesicht sie am Horizont bereits erblickten.



Eckart Haase



zur Kurzgeschichte:
Zielrichtung Himmel
Nina und der Weihnachtszettel
Lukas und die Weihnachtsdiebe





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