Liebesbriefe
- christliche Kurzgeschichte -





Liebesbriefe




Wie trüb es heute ist! Der Nebel zieht um die Baumkronen wie ein Witwenschleier. Ausgerechnet dieses Bild muss mir durch den Kopf gehen? Die Leute haben also wirklich recht, die mit wissens-geschwängerter Stimme sagten: Das dauert auch garantiert noch eine ganze Weile, bis du damit fertig wirst. Ganze Weile – was heißt das? Zwei Wochen? Zwei Jahre? Zwanzig? Es ist auf den Tag genau sechs Monate her, dass sie seinen Körper in eine Plastikhülle geschoben haben und ihn abtransportiert wie ein Stück Sperrmüll. Meine zweite Hälfte! Mein Stück Körper, mein Teil Seele, zweiundvierzig Jahre lang!
Ich sitze hier, starre aus dem Fenster, höre die Flamme im Ofen bullern – und wünsche mir nichts sehnlicher, als ihm über die schweißnasse Stirn zu streicheln. Er hat sie gehört! Meine Lieder, seine Lieblings-Choräle, die ich ihm vorsang, bis sein Gesicht kalt wurde.
So kurz waren unsere Jahre! Voll gepackt mit Arbeit, Lachen, Gesang und Tränen. Nur Briefe – Liebesbriefe haben wir uns nie geschrieben. Wozu auch? Wir waren Tag um Tag und Nacht um Nacht beieinander. Trotzdem – jetzt würde ich gerne eine Schublade aufmachen, einen Packen vornehme Briefumschläge herausnehmen, die seidenen Schleife darum lösen und vorsichtig einen Bogen nach dem anderen herausnehmen. Buchstabe um Buchstabe würde ich in mich hineingenießen, ein Taschentuch bereithalten, damit die kostbaren Blätter nicht feucht würden. Meine Briefe an ihn kenne ich auswendig, jede Redewendung steht mir deutlich vor Augen. Ja, in den vielen Jahren wurden auch viele Gedanken zu Rundungen und Strichen auf zweidimensionaler Fläche. Nun geben sie ihr Geheimnis wieder preis – und ich lese die unsichtbaren Lettern, als stünden sie leibhaftig auf rechteckigen, raschelnden Blättern.

Mein Mann! Gibt es eine schönere Anrede? Als ich dich zum ersten Mal sah, ging mir ein Ziehen durchs Herz. Du warst nicht frei – es gab ein Zuhause, Menschen und Pläne in deinem Leben. Dort hatte ich nichts zu suchen. Es kam ein Tag, da fiel das Gebäude um dich zusammen. Trauer und Angst blieben allein bei dir. Und ich? Mein geheimster Traum wurde Wirklichkeit! Wir beide! Wir - unterschiedlicher wie es nicht stärker ging – und eine Zeit begann, voller Jubel, Erkenntnis und gemeinsamer Hoffnung. Liebster! Weißt du noch...? Nur diese die Worte genügen, und es wird hell!
Kleine, bunte Liebesbriefe aus Küssen und Schokolade, aus Entenbraten und frischer Wäsche – von ihnen gab es reichlich. Hätte ich trotzdem viel öfter die Kartoffel in Herzform schälen sollen, oder einen Zettel mit „Ich liebe dich“ aufs Armaturenbrett legen? Die Jahre gingen schnell zuende.
Mit einem Schreibstift und wohlgesetzten poetischen Worten hattest du keinen Vertrag, deine Hände entlockten dafür den Instrumenten klangvolle Melodien, und deine Augen schickten mir die Musik mit den Worten direkt in mein Herz. Diese Liebesbriefe haben sich für immer eingebrannt, stärker als Tinten-Zeichen, die dem Hauch der Vergänglichkeit nicht standhalten.
So lese ich einen weiteren Brief an dich mit großem Herzklopfen. „Du fragst mich oft: Was siehst du an mir, das dir angenehm ist?“ Wie kann ich alle die Teile aufzählen, die ich mit großem Verlangen ununterbrochen liebkosen möchte? Wie drängt mich mein eigenes Ich, dir so nahe wie möglich zu sein! Niemals kann ich dir eine Berührung verweigern, nein, ich nehme sie auf mit hungriger Seele. Du brauchst nichts davon zu wissen, wie sehr mich deine Kritiken verletzen. Niemals könnte ich mit dir streiten. Wieso sollte ich mich beklagen, wenn du meine ganze Kraft und Überlegung eingeforderst? Sie sind nur dazu da, dir zur Seite zu stehen. Bleib bei mir, Liebster, zähle die Jahre nicht, lass uns miteinander alt werden!

Ist auch ein Liebesbrief dabei, der erst zwanzig Jahre alt ist? Wieso sollte er nicht da sein? Eine Ecke abgeknickt? Kann sein, ich habe ihn doch öfter hervorgeholt, als ich mich erinnere.
Hat er ein Datum? Ich finde keines – aber die Sätze sind deutlich genug.

Nun ist unser Haus recht leer geworden. Wir beide schauen uns an und jeder denkt: Wir waren so jung, wir sind so hoch geflogen, es gab soviel zu tun – wie finden wir wieder in neuer Weise zusammen, nur wir beide, ohne unsere quirligen, fröhlichen Ergebnisse unserer Liebe? Arbeit ist überreichlich geblieben, Blüten und Früchte wechseln sich ab um unser Haus. Freunde gibt es zuhauf. Unsere Tage werden nicht grau, die Nacht begegnet meist nur einem Menschengebilde – im Dunkel nicht zu trennen. Warum sollten wir zögern? Warum den nächsten Schritt fürchten? Wir sind aufgehoben in einer Liebe, die nicht nur Mann und Frau umfasst. Liebe, die in andere Dimensionen reicht als unser Gefühl und Verstand, die in uns hineinfließt als ein Kraftstrom aus Gottes nie versiegender Nähe.
Wir werden mit dem Erinnern an Schätze vergangener Jahre und der mit Spannung erwarteten Freuden der kommenden Zeit nicht fertig werden. Ich sehe dein Lächeln während du diese Zeilen lesen wirst, ich küsse dir das Lächeln nicht fort – ich gebe dir meines dazu!

So ein stiller Herbstnachmittag tut gut, mit all den Worten voll Reichtum um mich herum. Bevor die Schatten die Buchstaben verschwimmen lassen, werde ich diesen letzten, langen Brief noch öffnen. Ich habe ihn verfasst, als mein großer, altgewordener Held schon eine Sehnsucht in sich trug, von dieser mühsamen Reise hier auszuruhen, Ich müsste den Brief nicht in die Hand nehmen, ich weiß, was ich ihm sagte – aber es könnte sein, ich vergaß doch die eine oder andere Einzelheit.

„Mein Schatz,
viele Tausend Male hab ich dich nun so angeredet. Und ich bin „deine Liebe“ - wie gern ich es höre. Auch wenn es Jahre gab, in denen du mich „Mama“ genannt hast, um der Kinder willen – ich war stolz auch auf diesen Titel. Ich sehe dich in deinem Sessel sitzen und höre dich leise atmen, so leise wie nie zuvor. Könnte ich mein eigenes Herz mit dir teilen, deines würde wieder gesund, und ich wäre mit der restlichen Hälfte auch zufrieden. Dich zu sehen, wie die Kräfte deinen Körper verlassen, machtlos zu sein, den Glanz deiner Augen wieder zu beleben, die Furchen deiner Hände nicht mit zärtlichem Schwung wieder glätten zu können – mein Seufzen vor dir zu verstecken – das ist Schmerz, den ich nicht alleine tragen kann.
Ich möchte, dass du vom Morgen bis in die Nacht mit all deinen Fasern sicher bist, dass unsere Liebe mit dem Heute nichts zu tun hat. Sie ist zu stolz, um sich den Zwängen der Zeit zu beugen, sie wird bleiben über alle Grenzen hinaus.
Aber ich will nicht reden, von dem Weg, der noch vor uns liegt. Ich schenke dir einen Umhang aus Küssen mit einem Kragen aus Wärme und bin da, wenn deine leise Stimme nach mir ruft.
Habt ich dir je genug gesagt: Ich danke dir für all deine Liebe?

Rauscht nur, ihr Äste, werft eure letzten Blätter dem Wind entgegen! Ich werde die Liebesbriefe wieder fein zusammenlegen, die seidene Schleife sehr ordentlich darum winden und das Bündel mit vorsichtigen Händen zurücklegen. Wer weiß, wie viele dunkle Abende ich noch unter dem Schein der Lampe sitzen werde – bis ich selbst mit all meiner Sehnsucht in die ewige Lichtwelt übersiedeln darf. Du mein Geliebter, darfst schauen, was du sicher wusstest – und wenn wir uns wiedersehen, wird unsere Liebe verwandelt sein in eine Qualität, für die wir sogar unsere wunderbaren Jahre gerne eintauschen werden.


Ursula Hellmann



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