Lazarus und der Reiche
- eine biblische Analogie nach Lukas 16 -






Lazarus und der Reiche
(nach Lukas 16,19-31)





Mein Name ist Lazarus.
Was gibt es Besonderes über mich zu berichten? Ich war einer der unbedeutendsten Menschen, die je unter der Sonne des Allmächtigen gelebt haben. Gäbe es ein Buch, in dem die Geschichten aller einst Lebender niedergeschrieben sind, so würden zwei Zeilen dem Anspruch Genüge leisten, mein Leben zu beschreiben.
Ich ertrug meine Leiden mit Geduld, so gut ich es vermochte. Was blieb mir auch anderes übrig, denn wurde mir auch alles genommen und jegliches vergönnt, so blieb mir doch die Hoffnung auf Besseres. Nicht in dieser Welt, aber in einer Zukünftigen, so dachte ich, und Recht sollte ich behalten.

Mein Leben war nur ein kalter Windhauch, vor dem man sich schützten möchte, eine vorüberziehende dunkle Wolke am sonst so strahlend blauen Himmel, ein schmerzlicher Dorn im Auge der Selbstzufriedenheit, ein übelriechendes Mahnmal. Die Tage waren gefüllt von Schmerz, Leid und Kummer. Die Hoffnung auf Genesung hatte ich schon lange aufgegeben, doch das Schlimmste für mich war die Verachtung. Sie schauten auf mich herab und wendeten sich alsbald wieder ab. Lange hielt ihr Blick nicht stand, dem Elend, das sich in ihr Gehirn vorzudrängen gedachte und dem sie Einhalt gebieten wollten. Oder sie taten so, als ob ich gar nicht existieren würde, sprachen beflissentlich weiter zueinander, in ihrem scheinbar so wichtigen Disput über Politik und Finanzen, über zu erzielende Profite und die Aufrechterhaltung des Lebenswerten. Ich gebe zu, mein Anblick muss schockierend gewesen sein für jene, denen es wohl erging in ihrer Seide und edlem Zwirn. Ihre dicken Bäuche mit Umhängen verdeckt und gewaschene Füße in feinstem Leder, den Boden keinesfalls berührend und der Armut entrückt. Seit Wochen nun lag ich hier vor dem großen, mächtigen schmiedeeisernen Tor jenes edlen, angesehen Herrn, der - sein Schloss, so würde ich es nennen, wenn es das Meine wäre - tagein, tagaus an mir vorbeischritt, erhobenen Hauptes, eilig bedacht auf dem Weg zu wichtigen Geschäften, Handelsabschlüssen und Verträgen. Ich schaute zu ihm auf, mit einem Auge nur, das andere blind und eitrig verschlossen und vernahm den Geruch des Wohlstands und der Zufriedenheit. Meine seit langem nicht geschnittenen Haare klebten an meinen Wangen und im Nacken, eine Wohnstatt zahlreicher Untermieter, die sich von meinen Schuppen nährten und mir juckten. Meine Kleider waren zerschlissen und hielten den zerschundenen, mit Geschwüren übersäten Körper nur ungenügend bedeckt. Warum finden die Hunde nur solch eine Wonne daran, Geschwüre zu lecken, nachdem sie ihren eigenen Kot beschnüffelten. Der Geruch muss wohl derselbe sein, als wäre ich schon verrottetes Aas, oder dachten sie in ihrer gottgegebenen Unschuld, mir mit feuchter, kühler Zunge Freude zu bereiten und Linderung zu schenken. Sollte es so gewesen sein, so sei ihnen verziehen, meinen Wunden durch ihr von Unrat verseuchtes Organ zu größerem Schmerz verholfen zu haben.

Der edle Herr jedoch würdigte mich keines Blickes und doch stießen seine Füße niemals an die meinen, wenn er an mir vorbeischritt oder über mich hinübersteigen musste. An manchen Tagen, wenn die Plagen an meinen Gliedern zerrten, oder der Hunger mich in Trübsinn versinken ließ, machte ich es ihm beschwerlich, mich zu ignorieren, doch es gelang ihm stets aufs Neue, der Demütigung eine Fratze zu geben und mir meinen Unwert vor Augen zu führen. Worin liegt meine Schuld? Was begehrte ich schon von ihm? Nur das das Recht, mich am Leben zu lassen, das Mindeste auf dieser Welt. Ich gedachte ja nicht im Übermut und voller Prunk zu schwelgen - nur zu leben begehrte ich von ihm. Von Zeit zu Zeit schlich die Magd seiner Küche an mir vorbei. Sie war hübsch anzusehen in der Schürze, die sie trug und der Anmut, die sie besaß. Sie bog um die Ecke des Hauses und erblickte mich dort. Ihr Lächeln wollte mir Gnade schenken, doch ihre Augen verrieten Entsetzen. Sie drehte sich mehrfach zu allen Seiten hin um, dann kniete sie nieder zu mir und gab mir die Reste zu essen, die der edle Herr nach übermäßiger Sättigung verschmäht hatte und den Hunden angedenken wollte. Doch die Magd war mildtätig und ließ mir einen Teil noch Essbaren übrig. Nie jedoch war ich allein, denn auch die Hunde hingen am Leben und wedelten mit den Schwänzen, wenn sie die Magd erblickten. So verstrichen die Tage und die Nächte, die Wochen und die Monate und der letzte Winter meines Lebens liegt nun schon eine Weile hinter mir zurück. Meine Erinnerung ist noch klar, obgleich ohne Groll und Anklage. Kurz bevor die Magd selbst ernstlich erkrankte, brachte sie mir eine große Ration noch warmen Essens. Eine alte Decke, die ihr selbst gehörte, legte sie mir um die abgemagerten Schultern und bedachte mich mit aller Wärme, die sie mir zu geben noch imstande war. Nie sprach sie auch nur ein Wort, doch verstand ich sie dennoch und las durch das Fenster ihrer gütigen Augen von der Botschaft der Liebe und der Gnade, die der Allmächtige zu geben bereit ist, zu einer Zeit, die wir nicht kennen, auf einem Weg, den wir nicht wählen. An jenem Tag sah ich sie das letzte Mal und außer der Decke und ihrer Güte vermochte nichts weiteres mein irdisches Leben zu verlängern. Oft fragte ich mich in zahlreichen Stunden, wie es sich wohl ereignen würde, von dieser Welt zu gehen und eine andere zu bereisen, doch blieb mir nichts, als zu warten, zehrend von der Hoffnung auf Besseres und ermutigt durch die Güte dieser Magd. Der Tag meiner Reise begann mit einem leisen Ruf. Nur undeutlich konnte ich ihn erkennen, da meine Sinne mir schwanden und mein Herz mir stach in meiner Brust, doch als ich mich ein letztes Mal zum Himmel empor neigte, stand ein großer, mächtiger Engel vor meinem bescheidenen Lager. Er strahlte heller als die Sonne und seine Schwingen maßen mehr Ellen, als die Vögel der Urzeit jemals zum Fliegen benötigten. Alles an ihm war außergewöhnlich, doch nicht erschreckend, denn sein Blick enthielt die gleiche Güte wie der jener Magd, und einen Augenblick war mir, als stünde sie verwandelt vor mir. Er bückte sich zu mir herunter, ohne Abscheu und Furcht und nahm mich mühelos auf seinen kräftigen Arm, wie man ein kleines Kind zu halten pflegt. Ich schaute mich um und sah meinen Leib dort liegen. Ich fühlte mich nackt und unbekleidet in Anbetracht meiner zerlumpten Hüllen, die ich dort zurückließ, bestimmt nicht zur Freude des edlen Herrn. Ich wurde gewahr, dass ich noch bin, auch ohne Schmerz und ohne Plagen. Es schien, als lachten die Hunde, denn sie blickten zu mir auf in ihrem eigenen Harren auf Erlösung, wedelten freudig mit den struppigen Schwänzen  und sahen uns nach, wie wir allmählich aus ihrem Blickfeld verschwanden.

„Ruhe in Frieden“, so sagen die Menschen, wenn sie einen Leib in die Grube legen, doch wissen sie nicht, was wahre Ruhe bedeutet. Im Arm meines Engels ahnte ich, dass ich dieser Ruhe teilhaftig werden sollte.

„Wo bringst du mich hin?“, fragte ich den Engel.

„Ich bringe dich zu dem Wohnort der Gerechten Gottes, dort, wo du Trost erlangen sollst für die Schmach, die du erlitten hast“, sprach er in mein Bewusstsein hinein, obwohl sich seine Lippen nicht bewegten.

„Wie kann es sein, dass ich noch bin, dass ich mit dir rede und mich geborgen fühle in deinen Armen?“

„Du hast dich lediglich entkleidet, Lazarus, doch den Ort, der dir zugewiesen ist, kannst du ohne mich nicht finden. Dein Dasein hat kein Ende und das Kleid kann man wechseln. Der Odem des Höchsten erfüllt noch immer deine Seele, dein Gemüt und deinen Verstand, denn diese sind ewig, so wie der Höchste es ist. Es wird die Zeit kommen, wo ein neues Kleid du erlangst, ein unvergängliches und teures, erkauft durch einen hohen Preis, zusammen mit jenen, die Gerechtigkeit ihr Erbe nennen. Doch nun sind wir am Ort seiner Wahl, wo Trost und Vergessen dich begleiten werden, bis zu dem Tag, an dem die Posaune erschallt und dir die ewige Wohnstatt zugeteilt wird.“

Behutsam setzte er mich ab, obgleich ich leicht hätte hinunterhüpfen können. Ich fühlte mich prächtig und leicht, beschwingt und von allen Lasten meines zerschundenen und verhungerten Leibes befreit. Ein letztes Mal ließ der Engel mir einen Blick voller Liebe und Barmherzigkeit zukommen und erfüllte damit mein hungriges Herz. Dann war er nicht mehr zu sehen und ließ mich allein zurück.
Ich schaute mich um und fand einen Ort vor, wie ich ihn in meinen schönsten Träumen nicht erwartet hätte. Auch fehlen mir die Worte, diesen Ort des Friedens angemessen zu beschreiben, da es einen solchen auf unserer Erde nicht gibt. Ich war nicht allein, auch war es nicht finster oder heiß, sondern hell und angenehm warm. Ein sonderbares Licht herrschte dort und ich konnte die Quelle des Lichtes nicht ausmachen. Ich entdeckte Abraham, der sich freute, mich zu sehen. Er, das Vorbild meines Glaubens, stand mir bei zum Trost und zur Linderung meiner Leiden. Nicht der Leiden meines Leibes, sondern jener meines Herzens, das Verachtung und der Schmach, die ich zu Lebzeiten im Überfluss gekostet hatte.

„Wo sind wir hier, Vater Abraham?“, fragte ich ihn voller Neugier, doch ohne Eile.

„Dies ist der Ort entkleideter Gerechter, die Stätte unserer Ruhe. Zu früheren Zeiten wurde es Scheol genannt, doch in jüngeren Schriften findet man es als Hades geschrieben. Es ist gleich dem Paradies, denn alles was ein Mensch zum Fortbestehen braucht, findest du hier.“

„Wie lange werden wir hier verweilen müssen?“

„Der Zeitpunkt unserer Auferstehung ist auch mir nicht bekannt, doch wirst du hier keine Stunden, Tage oder Jahre empfinden. Das Erleben der Zeit ist an die Vergänglichkeit gebunden, hier aber ist ein Ort der Unvergänglichkeit. Auf Erden messen wir die Zeit an der Erfüllung unserer Wünsche und dem Erreichen neuer Ziele. Hier jedoch ist ein Ort der Ruhe, des Wartens und für uns, die wir vom Vater des Lebens gerecht gesprochen wurden, ist es ein Ort des Trostes und des Friedens.“

„Was geschieht mit den anderen Menschen, die Böses tun und Gottes Liebe und Gnade verschmähen?“, fragte ich Abraham und lehnte mich an ihn an.

In diesem Augenblick vernahmen wir eine laute, verzweifelte Stimme, die von Ferne an unsere Ohren drang. Ich schaute in die Richtung, aus der ich die Stimme vermutete und konnte dort einen Menschen stehen sehen, eingehüllt in helles Licht, ja es hätte Feuer sein können, doch die Flammen versenkten ihn nicht. Es schien, als spielten sie nur mit ihm und ließen ihn die Hitze spüren. Außer dem Licht dieses Feuers war es dort stockfinster und von dem Ort ging eine beklemmende Bedrückung aus. Ich entdeckte noch viele andere Menschen dort drüben, doch waren sie alle für sich allein, klagend, winselnd und ohne Hoffnung.

„Was ruft dieser Mensch dir zu, Abraham? Kennst du ihn und woher kennt er dich?“, fragte ich den, an dessen Schulter ich lehnte.

„Dieser Mann, den du siehst und hörst, ist jener edle Herr, an dessen Pforten du vergeblich auf Mitgefühl und Barmherzigkeit gewartet hast. Er ist ebenfalls gestorben, doch trugen ihn nicht die Engel des HERRN an diesen Ort. Er verlangt danach, Linderung zu empfangen, die ihm dort verwehrt ist. Er leidet Pein in seiner Flamme und er fleht, dass du deinen Finger ins frische Wasser tauchst und damit seine Zunge kühlst.“

„Ach, jetzt bemerkt er mich“, protestierte ich entrüstet. „Früher war ich Luft für ihn und jetzt soll ich seine Schmerzen lindern?“

„Du würdest es tun, Lazarus, wenn es möglich wäre, denn du bist von einem anderen Schlag als jener.“

Abraham rief dem vormals reichen und edlen, doch nun entkleideten, jammernden und armseligen Herrn zu:

„Es ist nicht möglich, Lazarus zu dir zu schicken, denn es trennt uns eine tiefe und breite, unüberwindliche Schlucht, so dass niemand die Seiten wechseln kann, so sehr er es auch begehrt“, rief Abraham ihm zu. „Des weiteren bedenke, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden.“

Voller Verzweiflung antwortete er ihm aus der Ferne: „Dann sende ihn doch in das Haus meines Vaters zu meinen fünf Brüdern, das sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.“

„Deine Brüder können im Wort Gottes lesen, das ihnen zur Belehrung gegeben ist, sie können Mose und die Propheten hören“, erwiderte Abraham.

Die Stimme des Gequälten wurde immer lauter und flehender: „Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren.

Darauf sagte Abraham: „Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.“

Ich betrachtete diese Begebenheit mit großem Interesse. Ich war erstaunt, dass nach dem Tod, wie wir ihn nannten und vermuteten, alles ganz anders war. Ich hatte den reichen Mann zu Lebzeiten nicht gehasst und tat es nun noch weniger. Mein Herz war erfüllt von der Macht des Unausweichlichen, des Unabänderlichen. Diesem Mann würde keine Möglichkeit der Umkehr mehr offen stehen, denn die Zeit der Gnade war für ihn vorbei. Ich jedoch habe mein ganzes irdisches Leben mit Entbehrungen gekämpft und bin am Ende in meinem Leibe jämmerlich verhungert und erfroren, doch stets in der freudigen Erwartung auf diese Zeit und erst recht auf die Zukünftige. Wenn ich jetzt hier am Ort der entkleideten Gerechten Gottes bin, dann ist die einzige Gerechtigkeit, die mir innerhalb meines armseligen Lebens bewusst ist, jene, dass ich an einen guten Gott geglaubt habe, an Christus, der meine Schmach blutend am Kreuz bereits getragen hat und der für mich zur Gerechtigkeit wurde.

Ein letztes Mal wendete ich mich an diesem langen Tag, obwohl es keinen dergleichen mehr für mich gibt, an den Vater des Glaubens. „Was hätte der edle Herr besser machen können, um nicht an den Ort der Qual zu kommen. Hätte der Glaube an Christus ihn errettet?“

Abraham antwortete und ich entdeckte Güte und Trauer in seiner Stimme: “Ja, das hätte es. Dies hätte sein hartes Herz verändert. Sein Problem war nicht, viel Geld und Reichtümer zu besitzen, sondern Menschen wie dir nichts davon abzugeben und das Leid damit zu mindern.“

Abraham erhob sich und ging weiter umher, andere Verblichene zu trösten und ihre Wunden zu heilen und ließ mich einstweilen allein, aber nicht einsam, zurück.

Vieles gibt es noch zu lernen und zu verstehen an diesem Ort und an den anderen, die noch folgen, und selbst wenn es keine Zeit mehr gibt, die mein Erleben bemessen könnte, so habe ich doch – menschlich gesprochen - genug davon, nur das sie mir nicht lang wird in der Gegenwart meines Erlösers.





© Jörg S. Gustmann






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