Generation ohne Väter
- Anhang zum Buch von Wolfgang Müller -





Generation ohne Väter



Anhang zum Buch von Wolfgang Müller "Gedanken eines Synodalen".
Zum Buch:

Gedanken eines Synodalen

[ 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 ]








1)Generation ohne Väter

Kindheit
Millionen Kinder sind während des Krieges ohne Vater, meist
nur mit der Mutter aufgewachsen.
Die Generation ohne Väter, zu der auch ich gehöre.
Der verdammte Krieg hat das ermöglicht.
Unsere Väter waren ja überwiegend im Felde.
Viele kamen erst nach 1945 zurück, manche auch nicht, sie
gerieten in Gefangenschaft starben dort oder sind gefallen.
Ich bin Jahrgang 1943, am 19.Juni 1943 wurde ich, auf dem Höhepunkt
des Krieges, in Wuppertal, im Herz Jesu Kloster geboren.
Der Krieg war im Grunde schon verloren.
Nicht das meine Mutter Nonne war, aber das Kloster lag nur wenige
Meter von ihrer Wohnung entfernt.
Mein Vater, ich war noch nicht geboren, hat nach einem Alliierten Angriff
als er auf Fronturlaub in Wuppertal war, noch beim löschen des
brennenden Dachstuhles am Kloster geholfen.
Mutter war vor ihrer Schwangerschaft bei der Feuerwehr eingezogen
worden und hat auch manchen Brand mit gelöscht.
Irgendwann im Juni/Juli 1943 gab es einen verheerenden Luftangriff
Amerikanischer und Britischer Bomber auf das Ruhrgebiet, wobei auch
Wuppertal Ziel der Angriffe war.
Meine Mutter hat mir später erzählt, wie sie sich in Todesangst mit mir
in einen Keller geflüchtet hat.
Da die Angriffe auf das Ruhrgebiet zur Normalität wurden, entschloss sich
2)Mutter noch im selben Jahr zu einer Freundin nach Ostpreußen zu
ziehen.
Offensichtlich war man zu diesem Zeitpunkt in Ostpreußen noch
relativ sicher.
Nach Ostpreußen war ein weiter Weg, in Dresden musste Mutter mit
mir aus dem Zug, es ging erst am nächsten Tag weiter. Es war bereits
Abend, Mutter irrte mit mir in der Nähe des Dresdener Hauptbahnhofs
herum, als sie von einer fremden Frau angesprochen wurde. Die
Fremde lud uns zu sich nach Hause ein, ganz in der Nähe des
Bahnhofes. Mutter erzählte mir später, die Fremde habe mich gebadet,
frisch gewindelt und gefüttert und dann in ein komplett eingerichtetes
Kinderzimmer in ein Bettchen gepackt.
Die Fremde hatte offensichtlich ihr Kind verloren.
Am nächsten Tag ging die Reise weiter, Richtung Ostpreußen.
Mutter hat später oft von den Dresdener Erlebnissen erzählt und es
sehr bedauert, dass sie nach dem Kriege nie die Möglichkeit hatte, die
fremde Frau noch einmal zu treffen, um sich zu bedanken. Schade!
In Ostpreußen angekommen, Königsberg, ging es uns anfangs gut.
Mutters Schwester, meine Tante, sowie mein Cousin und meine Oma,
Mutters und Tantes Mutter kamen bald nach.
Ich war nun mittlerweile sechs Monate alt. Der Krieg sollte uns auch hier
bald einholen, die Front rückte mit jedem Tag näher.
Und ich wurde mit allen Krankheiten „gesegnet“, die es nur gab.
Diphtherie – Scharlach – Masern und was nicht alles, zum Schluss noch
eine halbseitige Gesichtslähmung.
Ich lag in der Universitätsklinik in Königsberg.
1944 begann die Schlacht um Ostpreußen.
Auf dem Höhepunkt der Schlacht um Ostpreußen, die Wehrmacht
rückte ab, kamen bei mir noch eine Mittelohrentzündung und eine
Hirnhautentzündung dazu. Bei deutschen Ärzten war keine Hilfe mehr
zu erwarten, abgesehen davon, das auch keine mehr da waren.
Irgendwie brachte mich Mutter in ein Russisches Militärlazarett, wo ich
von russischen Ärzten behandelt wurde, welche mir das Leben gerettet
haben. Nun konnte ich auch die Flucht überleben, welche ja nun für
3) uns bevorstand.
Denn Stalin hatte zur Hatz auf alle Deutschen aufgerufen.
Ein ganzes Jahr waren wir später auf der Flucht, wie haben wir das
bloß geschafft und überlebt?
Wie bekannt ist, gab es nur zwei Fluchtwege: zu Lande und zu Wasser.
Wir entschieden uns für den Landweg.
Eine Tante meiner Mutter entschied sich für die Gustlow und beeilte
sich, das Schiff zu erreichen, verpasste es aber, die Gustlow war schon
ausgelaufen, es war ihr Glück, somit hatte sie überlebt.
Das Schicksal der Gustlow war verheerend, wie wir alle wissen.
Die Tragödie ist ja mehrfach verfilmt worden. Es gab hier mehr
Opfer, als auf der Titanic.
Die Flucht hat ganze Familien zerrissen, viele haben sich nie wieder
gesehen. Von meiner Mutters Seite ist ein Onkel nach Brasilien
verschlagen worden, zwei Tanten nach New York, Adressen sind
nie ausfindig gemacht worden.
Nur mit einem Onkel Willi in New York hatte Mutter bis zu dessen
Tod Kontakt. Er, der Willi, starb in den achtziger Jahren.
Wir schlossen uns nun dem langen Treck an. Manchmal sehe ich mir
im Fernsehen Dokumentationen an, „Flucht und Vertreibung“ das alles
muss furchtbar gewesen sein, kaum nachvollziehbar für uns heutige.
Meine Mutter war damals noch eine junge Frau, zog mit einem
Kind, ihrer Mutter, Schwester und Neffen immer westwärts, aus
Angst vor den Russen. Diese Angst war ja auch nicht unbegründet, wie
wir alle heute wissen. Die Rache der Roten Armee war grausam und
hart. Es waren besonders die Tatarischen Russen, jene von der anderen
Seite des Ural, welche sich mit Grausamkeiten hervortaten.
Mutter erzählte, wie man auch mal gezielt auf uns geschossen hat.
Wen wundert es, wenn man bedenkt wie Wehrmacht und SS sich in
Russland verhalten haben, und nur überall verbrannte Erde
hinterlassen haben.
Aber Mutter hat auch von ganz lieben Rotarmisten gesprochen.
4) Wir hatten nämlich eine gute Beziehung zu den Russen, Mutters
Großvater war Lehrer in Moskau gewesen.
Leider hat Stalin pauschal alle Deutschen verurteilt und vertrieben.
Es war auch das Ende der Wolga - Republik.
Zwischenzeitlich sind wir mit dem Treck irgendwie in Lötzen
angekommen, immer noch Ostpreußen.
In irgendeiner Schule dort wurde ich getauft.
Bleiben konnten wir nicht, wir mussten weiter, immer Richtung
Westen.
Mutter erzählt: Nichts zu essen, für alle nicht, ein hungriges mittlerweile
fast einjähriges Kind an der Hand immer nur weiter, der Hunger
quälte alle. Auch keine Wäsche konnte gewechselt werden. Keine
sanitären Gelegenheiten auf Wochen oder Monate.
Es hieß nur immer: weiter.
Aber ich wurde auch langsam älter, kein Säugling mehr, Kleinkind.
Wenn man Glück hatte, nahm ein Fuhrwerk einen mal ein Stück mit.
Manchmal kam auch ein Wehrmachtsauto, die waren ja auf dem
Rückzug, und nahm uns ein Stück mit.
Es war oft schwierig, denn alle Flüchtenden schleppten ja auch noch
Irgendwelche Habseligkeiten mit sich herum.
Offiziell war unsere Flucht ja nicht erlaubt, auch wenn Ostpreußen
Evakuiert wurde.
Doch viele blieben auch zurück, Alte und Kranke, sie konnten
einfach nicht mehr, oder resignierten einfach.
Ihre Schicksale waren grausam.
Genächtigt wurde im Straßengraben, in Scheunen, auf freiem Feld,
irgendwo, und hinter einem Geschützdonner.
Am Tage dann die Tiefflieger Angriffe.
Hunger, Durst, Krankheiten, sie waren die treuen Begleiter, auf sie
war Verlass, denn sie waren immer da.
Oft gab es tagelang nichts zu beißen, und wenn man dann mal
Irgendwo eine Möhre ergatterte war das schon was.
5) Gelegentlich fand sich auch mal ein Bauer, welcher eine Stulle
spendierte, die hat Mutter dann zwischen mir und meinem Cousin
geteilt.
Aber es war auch normal, irgendwo im Dreck, oder im Abfall nach
Essbarem zu suchen.
Und man musste auf der Hut sein, denn es war auch Futterneid
an der Tagesordnung, ehe man sich versah, war die Möhre oder der
Kanten Brot weg.
Aber viele haben auch kostbaren Schmuck oder andere Wertsachen
gegen einen kargen Bissen oder ein paar Schuhe eingetauscht.
Mutter und Tante Ida haben sich dann vor Hunger umgedreht
und weggeschaut, sie haben verzichtet, uns Kindern zu liebe.
Und bald kam ein neuer Begleiter, jener, welcher schon der
Wehrmacht in Russland zum Verhängnis wurde: der Winter.
Viele hatten nicht die entsprechende Kleidung, kaputte Schuhe.
Da waren die Mütter, denen unterwegs auf der Flucht die Kinder
abhanden kamen, oder die Kinder, welche die Mutter verloren.
Ganze Familien wurden zerrissen, getrennt. Viele haben sich auch
nach dem Kriege nicht wieder gefunden, bis heute nicht.
Und dann die Kinder und Säuglinge, welche den Müttern buchstäblich
unter der Hand wegstarben, vor Hunger, Durst oder durch Krankheit,
manche auch durch Tiefflieger, und viele erfroren.
Der Winter war hart und grausam.
Da waren Mütter, dem Wahnsinn nahe oder schon wahnsinnig, als
Ihnen die Kinder auf der Flucht im Treck starben. Es gab keine
Möglichkeit für eine würdige Bestattung, der Boden war steinhart
gefroren und man musste weiter, die Front kam näher.
Viele Mütter blieben verzweifelt bei ihren toten Kindern am Wegesrand,
einige drehten durch. Viele legten ihre toten Kinder an den Rand der
Straße und zogen weiter. Auch viele Alte starben vor Erschöpfung.
Die Allee war eine Straße des Grauens.
Auch die kühnste und perverseste Fantasie kann sich das nicht
Ausmalen, was die Menschen damals erlebt haben.
Mutter hatte nur den einen Gedanken: weiter, nur nicht aufgeben.
Immer musste sie auch ihre Mutter und Schwester antreiben, ja nicht
aufzugeben.
6) Immer weiter, Richtung Westen, trotz Hunger und Durst.
Es war eine Flucht ins Ungewisse, nur vorwärts, Richtung Westen.
So langsam hatte meine Mutter und Oma und Tante auch
mitbekommen, das nicht nur Ostpreußen auf der Flucht war,
sondern der ganze Östliche Teil Deutschlands sich langsam
in Richtung Westen bewegte, was denn 1945 auch konsequent
mit der Vertreibung der Deutschen umgesetzt wurde.
Irgendwann kamen wir in Lübeck an, wobei meine Oma das Holsten
Tor für das Brandenburger Tor hielt.
Und auch Berlin wurde eines Tages erreicht.
Warum wir dort ankamen, was wir dort wollten, wusste Mutter nicht
mehr.
Die Flucht ging weiter und irgendwann, irgendwie landeten wir mal
in Lauchhammer, in Sachsen.
Mutter erzählte von einer alten Oma Richter, welche uns bei sich
aufnahm und sich viel um mich kümmerte.
Die Russen waren mittlerweile auch schon da.
Mutter und Tante Ida (Mutters Schwester) begegneten zwei
Rotarmisten, machten sofort kehrt um, den Rotarmisten aus dem
Wege zu gehen. Irgendwo haben sich dann Mutter und Tante Ida
versteckt, die beiden Rotarmisten suchten den ganzen Tag nach
Ihnen. Oma schlugen sie mit einem Revolver auf dem Kopf.
Drohte man den Russen mit Kommandantura, dann bekamen
sie Angst. Es gab Russische Kommandanten, welche Übergriffe
auf die Zivilbevölkerung hart bestraften.
Oft genug wurden einige Rotarmisten sofort standrechtlich erschossen.
Trotz allem, auch auf uns wurde gezielt geschossen.
Und vor Misshandlungen war man nie sicher.
Schlimm war, wenn die Russen nachts betrunken und grölend
umherzogen, wahllos durch die Gegend schossen, in Häuser
Eindrangen und randalierten.
7) Und dann, eines Tages ging die Flucht weiter.
Es war inzwischen alles etwas schwieriger geworden, denn die
Rote Armee hatte Sachsen längst erreicht.
Die Amerikaner hatten Sachsen an die Russen abgetreten.
Hier und dort wurde etwas zu essen erbettelt, schlief man hier und
dort, immer auf der Hut vor den Rotarmisten, aber auch vor vorbei
ziehenden Wehrmachtsangehörigen oder SS Leuten.
Nach Wochen wurde Graditz erreicht, kurz vor Torgau.
Schloss Graditz, die Gräfin war bereits nach Argentinien geflüchtet,
beherbergte ein edles Gestüt. Etliche Pferde aus diesem Gestüt
wurden später in Bremen entdeckt.
Mutter berichtete, das sie in den fünfziger Jahren mal kurz mit der
Gräfin Kontakt hatte.
Eine große Menschengruppe von Flüchtlingen hatte vom Schloss
Besitz ergriffen, die Tafeln waren noch gedeckt, goldene Bestecke
lagen auf den Tischen.
Natürlich wurde auch geplündert.
Wir waren glücklich, es soweit geschafft zu haben, nach dieser
lange Entbehrungszeit.
Die Idylle währte nur ein paar Tage, dann tauchten die ersten Russen
auf.
Was ich nun erzähle, weiß ich von meiner Mutter, es sind Tatsachen.
Die Russen fanden die Toilettenbecken einfach toll und wuschen
Ihre Haare darin, denn diese tatarischen Russen hatten noch nie
ein Klo gesehen.
Ihre Notdurft erledigten sie in den Kleiderschränken oder in jeder
beliebige Ecke des Schlosses.
Viele Russische Kuriere und auch Soldaten, legten sich unter die
Deutschen Autos und soffen das Benzin als Wodka Ersatz und
8) krepierten elend.
Die Suche nach Schnaps oder irgendeinen Fusel war unersättlich.
Den Deutschen nahm man die Uhren weg, solange sie tickten,
waren die Russen kindlich erfreut, tickten sie nicht mehr, warf man
die Uhren einfach weg. Oft genug handelte es sich um wertvolle
goldene Uhren.
Russen lernten Fahrrad fahren, auf einer Seite stiegen sie auf,
auf der anderen fielen sie wieder herunter. Kein Deutscher wagte
zu lachen.
Was sich dort auf Schloss Graditz, ja generell in von Russischen
Truppen besetzten Gebieten abspielte, davon hatte man im Westen
nicht die geringste Ahnung.
Wir durften nicht in die Kellerräume des Schlosses. Wie wir später
erfahren haben, waren die Kellerräume voller Leichen.
Irgendwann, etwa 1980, bin ich mal wieder in Graditz gewesen,
habe Fotos gemacht. Mutter kannte noch jede Stelle.
Allerdings war die gesamte Schlossanlage stark verfallen, wie so
vieles in der damaligen DDR.
Wir wissen nicht, ob es sich um Opfer der SS oder um Opfer der
Roten Armee handelte, welche in den Kellerräumen des Schlosses
lagen.
Mutter entschloss sich mit ihrem Anhang, Graditz zu verlassen.
Der Weg ging weiter, Richtung Torgau.
Oma hatte Mühe, den weiteren Strapazen standzuhalten. Mutter
musste alle immer ermahnen, weiter, weiter.
In Torgau standen wir an der Elbe vor einer in sich zusammen
gestürzte Brücke. Darüber, auf die andere Seite war lebensgefährlich.
Nach einer Nacht im Freien, erfuhren wir am nächsten Tag, der Krieg
ist aus!
Inzwischen war die Rote Armee auch in Torgau und stand an der
Elbe, drüben die Amerikaner.
Bekanntlich fand ja hier das historische Treffen von Russen und
9) Amerikanern statt.
Wir wollten auf die andere Seite, die Russen verlangten aber Papiere,
Dokumente, Passierscheine.
Mutter hatte zufällig eine alte Kohlenrechnung mit Stempel bei sich,
diese hielt sie einem Rotarmisten hin, der denn auch dieses Stück
Papier für das erforderliche Dokument zum passieren hielt.
Mit Halsbrecherischer Akrobatik mussten nun Mutter, Oma und ich
über die zerstörte Brücke hinunter, am anderen Ende wieder hoch
auf die andere Seite der Elbe auf Amerikanisches Gebiet.
Erleichterung, der Krieg war zu Ende, 6 Jahres sinnloses töten und
zerstören. Ein verblendetes und irregeleitetes Volk lag zerstört am
Boden.
Es herrschte nun Besatzungsrecht.
Irgendwie wusste Mutter, das mein Vater als Fallschirmjäger auf
Kreta in Gefangenschaft geraten war. Sie hat es mir später jedenfalls
erzählt. Vater wurde nach Ägypten in Gefangenschaft gebracht,
wo er Minen räumen musste.
Bis 1947 dauerte seine Gefangenschaft.
Dann sahen wir uns zum ersten Mal.
Und für uns hieß es weiter wandern, irgendwo hin in eine ungewisse
Zukunft.
Irgendwie gelang es uns, von irgendwo in einen Zug einzusteigen,
er fuhr bis Stendal, dann war Endstation.
Es hieß wieder laufen.
Die Tage vergingen.
Während der Wanderungen musste ich auf den Alleen immer die
Raupen an den Bäumen zählen, so lenkte mich Mutter ab, um mich
nicht immer tragen zu müssen. Oma wollte nicht mehr weitergehen,
doch Mutter war unerbittlich.
An irgendeinem Nachmittag landeten wir in einem winzigen Kaff,
Boock, in der Altmark, nahe Osterburg.
Als wir ankamen, ich war nun 4 Jahre alt und kann mich noch an
10) einiges erinnern, standen die Bauern alle an einer Ecke.
Einer nahm uns zu sich mit, damit wir erst einmal was zu essen bekamen.
Bis Ende 1947 blieben wir in Boock.
Gleich nach der Wende sind Mutter, meine Frau und ich nach Boock
gefahren. Es hatte sich dort nichts verändert, als sei die Zeit dort stehen
geblieben. Nur die Menschen von damals waren gr0ßenteils nicht mehr
da.
Da war die Gaststätte Müller, Mutter fragte den Wirt, welcher aus dem
Fenster schaute, nach verschiedenen Namen und Personen.
Mutter fragte nach einem Rudi und einer Anneliese, der Wirt deutete
auf das kleine Haus nebenan.
Wir begaben uns dorthin, Mutter klingelte. Die Tür öffnete sich und
ein älteres Ehepaar trat etwas schüchtern hervor.
Mutter stellte sich und uns kurz vor, gab ein paar Hinweise darauf,
wie sie hier 1945 – 1947 ihre Zeit verbrachte.
Dann sagte Mutter zu dem Ehepaar: du bist Rudi und du bist Anneliese.
Der Weg war frei, wir wurden herein gebeten.
Nach 40 Jahren ein Wiedersehen, viele Erinnerungen wurden
ausgetauscht. Es wurde gelacht, ja, vor 40 Jahren.
Mutter zeigte mir auch jenes kleine Häuschen, in welchem wir die
zwei Jahre gewohnt hatten und jene Steintreppe vor dem Haus, wo
ich so oft darauf gesessen hatte.
Wir gingen noch zum Friedhof, Mutter suchte nach einem bestimmten
Grab und fand es auch. Es war ihr kleines Geheimnis, hier ruhte ein
Freund von ihr, ein Begleiter, solange Vater nicht da war, der ja noch in
Gefangenschaft war.
Später sind wir noch öfters, jedes Jahr einmal, nach Boock gefahren,
inzwischen war der Kreis mit „ehemaligen“ größer geworden.
Da kamen der Karl Heinz Standtke dazu, und die Edith.
Doch ich muss jetzt erst mal ein wenig erzählen aus meiner Kindheit.
Denn meine Erlebnisse in Boock stecken gr0ßenteils noch immer in
meinen Erinnerungen.
11) Inzwischen war ich ja schon vier Jahre alt. Da weiß ich noch von Mine
Standtke, sie war so hilfsbereit und liebevoll. Ihr Sohn Karl Heinz,
damals siebzehn Jahre alt, hat sich später unserem jährlichen treffen
zugesellt. Ich habe (2011) noch Kontakt mit ihm.
Da ist noch jener Bauernhof von Büttners gewesen, mit Heini, dem
Wilden Hahn. Hier habe ich auch mal den Schweinestall geöffnet,
unerlaubt, die Ferkel mussten im Dorf alle wieder eingefangen werden.
An ein Weihnachten erinnere ich mich. Mutter hatte den Tannenbaum
mit Papierschnipsel geziert, Schmuck hatten wir nicht.
Es war Winter, der Acker war voll von Grünkohl, als Viehfutter.
Mutter erbat sich vom Bauern etwas Grünkohl, denn wir hatten
Ja nichts zu futtern. Der Bauer war verdutzt, was wir denn mit
erfrorenem Grünkohl wollten? Grünkohl war hier nur als Viehfutter
bekannt.
Die Toilette befand sich als Herzhäuschen im Garten hinter dem Haus.
Als ich im Sommer mal auf dem Herzhäuschen verweilte, konnte ich
nicht mehr hinaus. Immer wenn ich die Tür öffnete, rannte von außen
ein Schafbock gegen die Tür so dass sie geräuschvoll wieder zufiel.
Ich habe gebrüllt aus Leibeskräften, bis nach einer Weile Mutter kam
und mich befreite.
Einmal haben wir einen Ackerwagen mit Holz abgeladen, ich war oben
auf dem Wagen und habe Holzscheite runter geworfen, plötzlich sackte
Oma zusammen, sie hatte einen meiner Scheite auf den Kopf bekommen.
Zum Glück hat sie sich schnell erholt.
Meine Mutter fand auf dem Felde ein Hasen-Junges und brachte es
mir in einer Mütze. Ich drückte es an mich. Nach einer Weile sagte
ich zu Mutter: siehe, es schläft. Nein es war tot, ich hatte das arme
Häschen wohl zu sehr an mich gedrückt.
Und dann war da noch der Harras. Ein Schäferhund, welchem ich das
ganze Fell geschoren habe.
Obwohl es am Nötigsten oft fehlte, war es doch eine unbeschwerte
Zeit in Boock.
12)Gelegentlich fuhr Mutter mit mir abends noch schwarz über die
Grenze,
irgendwo bei Salzwedel verließen wir dann die sogenannte Ostzone.
Eine DDR gab es ja nicht, noch nicht.
Zu dem Zeitpunkt war das noch relativ ungefährlich, aber man durfte
sich trotzdem nicht erwischen lassen.
Wir fuhren Richtung Bremen, wo meine Tante, Vaters Schwester,
wohnte. Tante war zweimal ausgebombt, Onkel war nicht in
Kriegsgefangenschaft geraten.
Auf Grund der Notstandsgesetze hatten sie ein Zimmer bekommen,
bei fremden Leuten.
Ja und irgendwann mussten wir wieder zurück nach Boock, Oma
war ja auch noch dort. Also wieder vorsichtig zurück in die Ostzone.
Tante und Onkel rieten zwar zum hierbleiben, aber wir hatten ja
Oma noch in Boock.
Mutter ist in die SED eingetreten, aus taktischen Gründen, nun wurden
wir bei der Lebensmittelzuteilung bevorzugt berücksichtigt.
Zu DDR Zeit bekam Mutter später von den dortigen Behörden
eine Zahlungsaufforderung auf Schadensersatz. Sie hat die
Schreiben ignoriert.
1947, mein Vater wird aus der Kriegsgefangenschaft aus Ägypten
entlassen und kommt irgendwie nach Bremen. Er sucht seine Schwester,
meine Tante auf, hier erfährt er, das wir in Boock, in der Ostzone sind.
Vater muss sich nun erst einmal nach einer Bleibe umsehen.
Das Wohnungsamt weist ihm eine Räucherkammer zu.
Mein Onkel wird beim Wohnungsamt vorstellig und protestiert, ob man
wohl so einen heimkehrenden Soldaten empfängt.
Nun wird Vater ein Zimmer zugewiesen, bei einer fremden Familie.
Natürlich möchte er nun seine Familie nach Bremen holen, doch
Onkel rät ab, es werde immer gefährlicher in die Ostzone zu reisen.
Doch Vater ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen, er wollte
seine Familie sehen und haben.





13) Irgendwann Ende 1947 holte Vater uns, Mutter und mich aus Boock
heraus, es war eine gewagte Mission, aber sie gelang.
Oma fuhr erst noch nach Düsseldorf.
Ich war nun gerade 4 Jahre alt, sah zum ersten Mal meinen Vater
und er mich. Für mich war es ein fremder Mann, ich war ja ein
Muttersöhnchen geworden.
Und fremd geblieben ist mein Vater mir noch Jahrzehnte, trotz eines
Guten Verhältnisses, er tat alles für mich.
Wie viele Kinder haben nach 1945 erstmals ihren Vater gesehen, wenn
er denn heimkam? Wie viele Männer sahen erstmals ihre Kinder?
Die Generation ohne Väter, sie stand vor einer neuen Herausforderung,
denn nun mussten wir unsere Mutter mit einem „fremden“ Mann
teilen.
Wir wohnten nun zu dritt in einem möblierten Zimmer, bei einer fremden
Familie, das waren die Notstandsgesetze.
Wo sollten wir auch hin?
Vater wurde mit verschiedenen anderen Fallschirmjägern bei der
Polizei aufgenommen und wurde Schutzmann, wie man damals
sagte.
Ich erinnere mich noch, wenn Vater aus dem Nachtdienst morgens
nach Hause kam, hat Mutter mit mir die „Wohnung“ verlassen, wir
sind dann bis Mittag spazieren gegangen, damit Vater schlafen
konnte. Das konnte schon mal 14 Tage so gehen.
Wie wir in dem einen Zimmer geschlafen haben, weiß ich heute nicht
mehr, die Küche der Wohnungsbesitzer konnten wir mitbenutzen.
Mussten wir auch, wo sollten wir denn kochen?
Ich entsinne mich an einen Teller Graupen, welcher von Raupen
nur so wimmelte. Mutter hat den Fraß dann weggekippt. Nun, das
Hungern waren wir ja gewohnt.
Bremen war eine einzige Trümmerlandschaft, hier und dort wurden
Bunker gesprengt. Auf den Straßen konnte man NS Abzeichen
aufsammeln, wie Muscheln am Strand. Auf den Ascheneimern lagen
14) Bilder von Hitler. Die Menschen versuchten sich all dieser Insigne
möglichst schnell zu entledigen.
(Wir sagten noch Ascheneimer, was heute die Mülltonne ist)
Denn damals heizte man ja mit Kohle und Holz, die Asche kam
also in den Ascheeimer.
Der Müllwagen wurde noch von Pferden gezogen, bis dann die ersten
LKWs kamen.
Irgendwo sah ich einen PKW Marke DKW, er wurde noch mit einer
Handkurbel vorne beim Kühler, gestartet.
Ach die Autos damals, Borgward, Goliath, NSU, viele Marken, die
Es heute gar nicht mehr gibt.
Nun bekamen wir auch endlich eine größere Wohnung, ein Kellerloch.
Aber immerhin drei Räume, in denen es von Ratten und Mäusen
wimmelte, so dass wir uns erst einmal eine Katze zulegten, unseren
Bubi, der räumte denn auch auf.
Eines Tages zog dann auch meine Oma, Mutters Mutter zu uns, aus
Düsseldorf. Tage später kamen ihre Möbel mit dem Zug nach, jetzt
hatten wir auch Möbel.
Eine Toilette gab es im ganzen Haus nur eine, auf der ersten Etage.
Das war damals nicht ungewöhnlich, so hatte man eben gebaut.
In der Toilette war im Türrahmen ein Nagel, dort hing verschiedenes
Papier, Toilettenpapier gab es nicht, meistens war es geschnittenes
Zeitungspapier.
Wir hatten unten im Keller noch einen Eimer, fürs kleine Geschäft.
Im Winter war es hier unten saukalt und feucht.
Mutter hat dann einen Ziegelstein im Ofen heiß gemacht, in ein
Handtuch gewickelt, den bekam ich dann im Bett ans Fußende.
Mit Oma ging ich oft zum Hafen, wo wir Holz sammelten, zum Heizen.
Gelegentlich liehen wir uns auch einen Handkarren um einen Sack
Briketts zu kaufen.
Samstag war Badetag. Etliche Kessel mit heißem Wasser mussten
bereitet werden, welche dann in eine große Zinkwanne gegossen
15) wurden. Und dann gab es frische Wäsche, wenn man die Plünnen
den so bezeichnen konnte.
Alle die schönen Kosmetik Sachen, die wir heute kennen, gab es
nicht. Wir waren froh, wenn wir Kernseife hatten.
Was das baden und Wäsche wechseln anbetraf, wir waren Schweine,
würde man heute sagen, aber es war einfach so.
Es ging nicht anders.
Ende 1947 kam es zu einem schweren Schlag für uns.
Ernst Hermann, mein Cousin, er war 17 Jahre alt, ertrank beim Spiel
in einem Bombentrichter.
Ich habe die Beerdigung noch in schwacher Erinnerung. Mein Vater
war zur Beerdigung in seiner Polizeiuniform gekommen, weil er nichts
anderes zum anziehen hatte.
Das Zeug von Ernst Hermann wurde später umgenäht, damit ich dann
was zum anziehen hatte.
Geld hatten wir ja nicht, anfangs hatten wir ja alle Lebensmittelmarken,
alles war rationiert. Ich entsinne mich: Mutter schickte mich mit einer
Marke zum Milch holen, ich nahm die Milchkanne und zog los.
Die Milch wurde noch gezapft, wie man das mit Bier macht. Auf dem
nach Hause Weg fiel ich hin, die Milch war futsch, es gab keine neue,
wir hatten keine Marken mehr.
Übrigens: an den Wänden fast aller Geschäfte stand oft geschrieben:
„Kolonialwaren“, das war noch ein Relikt aus dem ersten Weltkrieg,
als Deutschland noch Kolonien hatte.
Einzige harte Währung war der Dollar, als die DM kam, lag er so bei
4.50 DM
Aber noch gab es keine DM, sondern Lebensmittelmarken.
Es sei denn, man hatte Zigaretten, das war die geheime Währung.
Auf dem Schwarzmarkt, der offiziell verboten war, ließ sich so einiges
ergattern. Ich habe mal irgendwo ein paar Packungen Chesterfield
gefunden und nach Hause gebracht, meine Eltern waren glücklich.
Sie haben die Zigaretten noch durchgebrochen, nur zur hälfte
16) geraucht, um zu sparen.
Ich war nun 7 Jahre alt, bereit zur Einschulung.
Es war Monat April 1950 noch recht kühl draußen. Ich hatte eine
kurze Hose an und einen Mantel darüber, das schlimmste aber war
die Mütze, mein Onkel spottete: Heimkehrer Mütze.
Es waren die Schirmmützen der Landser.
In der Tat, wer einmal die Heimkehrer in Friedland sah, mit ihren
Schirmmützen, der weiß Bescheid.
Ich habe mich fürchterlich geschämt und wollte nicht zur Einschulung.
Eben, diese Heimkehrer Mütze. Mutter versuchte es mit einer
Baskenmütze, ich wurde verrückt.
Es half alles nichts, ich musste sie aufbehalten.
Zur Ausstattung eines Erstklässlers gehörte damals: eine Schiefertafel,
Griffel, ein Schwamm.
Über Krieg ist in der Schule nie gesprochen worden, auch später
nicht. Es waren wohl zu viele Lehrer gewollt oder ungewollt in den
Nationalsozialismus verstrickt.
Und mein Jahrgang kannte noch die Schulspeisung.
Mittagessen wurde von den englischen Besatzungstruppen in
die Schule geliefert. Wir Kinder hatten alle einen sogenannten
Henkelmann mit.
Ich entsinne mich, dass es an 5 Tagen der Woche Tomatensuppe
gab.
Dazu mussten wir viel Lebertran schlucken.
Wenn es zu Hause dann mal Pellkartoffeln und Hering gab, war
das früher ein Arme Leute essen, heute eine Delikatesse.
Sonntags gab es dann das Sonntagsessen, Gulasch, Kotelett oder
Rouladen, sofern es das gab und man es sich leisten konnte.
Kam man nach Hause, hieß es sich umziehen. Wir kannten noch
Schulzeug, Spielzeug und Sonntagszeug.
Eigentlich wurde nur das Sonntagszeug verschließen.
Und wir haben noch sehr kreativ gespielt, Indianer und Cowboy,
sind in den Trümmern der ausgebombten Häuser rum gestromert.
Wir kannten noch den Stabilbaukasten, die Dampfmaschine und
so manches, was heute nur noch Sammler besitzen.

17) Eigentlich war es eine unbeschwerte Kindheit, wir waren mit wenigem
zufrieden.
Aus einem alten Kinderwagen bauten wir eine Seifenkiste.
Kennt man wohl heute nicht mehr.
Und was konnte man auch in den Trümmern alles finden?
Die Bravo oder andere Aufklärungsliteratur besaßen wir nicht.
Das Thema war tabu. Interessierte uns auch nicht.
Die moralischen Ansichten damals waren anders. Unsere heutige
Freizügigkeit stand damals teilweise unter Strafe.
Es gab noch den Kuppelparagrafen und den Paragraf 175.
Knutschen war etwas Unanständiges. Man sprach über alle diese
Dinge nicht.
Als ich noch nicht zur Schule ging, erzählte mir meine Mutter noch die
Geschichte vom Klapperstorch, sie hat mich beruhigt.
1950 wurde auch meine Schwester geboren, sie wuchs schon mit
etwas mehr Wohlstand auf.
Noch einmal zogen wir um, nur zwei Häuser weiter war nach Wieder
Aufbau Maßnahmen eine Wohnung für uns frei.
Endlich eine richtige Wohnung, mit eigener Toilette und Badewanne,
ein riesiger Boiler sorgte für heißes Wasser, was er aber oft genug
schuldig blieb.
Inzwischen war auch die Währungsreform gewesen und wir hatten
wieder Geld.
Ich wollte mir auch etwas verdienen und sammelte Schrott, von dem
es ja genug gab. Und die Schrotthändler zahlten nicht schlecht.
An einem Tage, ich hatte einiges an Schrott in einem alten Eimer
gesammelt, hatte der Händler schon geschlossen. Ich nahm also den
Eimer mit nach Hause und stellte ihn in den Hausflur.
Als mein Vater abends nach Hause kam, sah er den Eimer und wurde
fast verrückt. In dem Eimer befanden sich lauter Blindgänger, Granaten,
Brandbomben und andere scharfe Munition, was ich aber nicht wusste.
Ich mag so 9 Jahre alt gewesen sein, als ich mit einer Gruppe von
18)Kindern nach Sylt verschickt wurde. Die Mangelkrankheiten hatten
eben doch Spuren hinterlassen.
Das Heim ist heute eine Jugendherberge, habe es vor einigen Jahren
bei einem Besuch auf Sylt wiederentdeckt.
Auf Sylt bekamen wir viel Griesbrei und die englischen Soldaten
gaben uns oft Apfelsinen.
Wir durften nichts negatives, etwa Heimweh, nach Hause berichten!!
Ein Jahr später wurde ich noch einmal verschickt, zu einem Zeltlager
In den Teutoburger Wald.
Ich entsinne mich: am Ankunftstage gab es Griesbrei und dann fast
13 Tage jeden Tag Weißkohl Suppe.
Danach habe ich fast 30 Jahre keinen Weißkohl mehr gegessen.
Mir wurde schlecht, wenn es in einem Haus nach Weißkohl roch.
Inzwischen sind die Jahre dahingegangen, ich gehe auf die siebzig
zu.
Wie hat sich die Welt in den letzten 50 Jahren verändert.





Wolfgang Müller









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