Im Garten Gethsemani
- eine Reise mit der Zeitmaschine -





Im Garten Gethsemani



Es begann alles mit einem Besuch auf dem Frühjahrsvolksfest. Ich schlenderte mit meinen Freunden über das Festgelände und wir landeten vor einem Stand, der Zeitreisen anbot. Es sollte nur ein Spaß sein, als wir das Zelt betraten und ich wahllos eine Jahreszahl in ein Gerät eintippte, welches mir überreicht wurde und das mich dann in das eingegebene Jahr verfrachten sollte. Doch plötzlich verschwamm das Zelt um mich herum. Es wurde dunkel. Ich spürte, dass der Untergrund auf dem ich stand weicher wurde. Ich war zu überrascht, um an irgendetwas zu denken. Als meine Augen sich etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, dass ich mich in einem Park oder etwas Ähnlichem befand. Der Mond schien hell und so konnte ich erkennen, dass ich auf einer Wiese stehen musste. Die Bäume neben mir warfen bedrohlich wirkende Schatten. Mich fröstelte. Unter einem der Bäume lagen ein paar Männer. Offenbar schlafend. Zumindest rührte sich nichts. Ich überlegte, was das für eine sonderbare Szene war, in welche mich diese angebliche Zeitmaschine versetzt hatte und wie die Veranstalter es wohl schafften, die Umgebung in so kurzer Zeit in ein dermaßen realistisches Bild zu verwandeln. Erst da fiel mir auf, dass ich alleine war. Keine Spur von meinen Freunden oder den anderen Menschen, die mit mir eben noch in dem Zelt standen. Angst ergriff mich. Was hatte das zu bedeuten? Und was waren das für Männer, die da unter dem Baum lagen? Ich musste hier weg! Wie funktionierte dieses Gerät noch mal?
In diesem Moment sah ich ihn. Er kniete ein Stück entfernt von den schlafenden Männern auf einer Anhöhe und betete. Am ganzen Körper zitternd. Sein Kleid war von Schweiß durchtränkt. Offensichtlich hatte dieser Mensch große Angst.
Ich überlegte, ob ich zu dem Mann hingehen sollte, um ihm meine Hilfe anzubieten. Doch etwas hielt mich davon ab. Irgendwie kam mir diese Szene plötzlich schrecklich bekannt vor. Ein Schauer lief mir über den Rücken und mein Herz begann unkontrolliert zu rasen. Aber das konnte doch unmöglich wahr sein, oder? Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Am liebsten wäre ich davon gelaufen. Doch ich schaffte es nicht, mich zu bewegen. Konnte meinen Blick nicht von der betenden Gestalt abwenden. Jesus. Der Garten Getsemani. Ich.

Etwas stimmte hier nicht. Langsam begann es mir zu dämmern. Ich. Ich sollte nicht hier sein. Doch was sollte ich tun? Mich irgendwo verstecken und warten bis alles vorbei war? Oder vielleicht beten? Beten dafür, dass Gott Mitleid hatte mit seinem Sohn und ihm ersparte, was ihm bevorstand? Dann fiel mir wieder ein, wie Jesus Petrus als Satan bezeichnet hatte, als dieser versuchte, ihn von seiner Passion abzuhalten. Mir schossen Tränen in die Augen. Ich fühlte mich schrecklich hilflos. Wie gerne hätte ich Jesus geholfen. Doch wie? Ich glaube, ich konnte nie wirklich verstehen, warum sein Leben auf eine so grausame Art beendet wurde.
In diesem Moment drehte er sich um. Überrascht blickte er mich an. Kein Wunder. Schließlich sollte ja später in der Bibel stehen, dass seine Jünger schliefen und er alleine diese Nacht mit seiner Angst verbringen musste. Außerdem musste ich mit meiner Jeans und dem braunen T-Shirt von Esprit für die damalige Zeit schon einen seltsamen Anblick geboten haben.
„Was machst du hier?“ Jesu Worte waren nicht vorwurfsvoll, wie man es vielleicht von jemandem erwartet hätte, den man gerade beim Beten beobachtet hatte. Nein, trotz aller Angst, die er ausstehen musste, lag eine gewisse Verwunderung in seiner Stimme. Sein Blick war eine Mischung aus Überraschung und Besorgnis.
„Ich weiß nicht“, stotterte ich. Das war die Wahrheit. In diesem Moment wusste ich wirklich gar nichts mehr. Sollte ich ihm erzählen, dass ich mit einer Zeitmaschine aus dem Jahr 2007 angereist war? Wahrscheinlich würde er mich für verrückt halten. Andererseits passte ich so wenig in dieses Geschehen wie es wahrscheinlich Eisbären in Jerusalem gab. Jesus antwortete nicht darauf. Er sah mich lediglich wartend an. Ich fühlte mich ertappt und gestand verwirrt: „Beten. Beten dafür, dass Du das nicht tun musst.“
Jesus schien zu verstehen. Mehr noch. Er schien sich nicht zu wundern, dass ich offenbar mehr wusste als seine Apostel zum damaligen Zeitpunkt noch ahnten. „Du weißt, dass du das nicht tun solltest.“ Es war kein Vorwurf. Nur eine sanfte Mahnung. Ich war erleichtert. Zumindest hatte er mich nicht als Satan bezeichnet.
„Warum?“, flüsterte ich, um seine Jünger nicht zu wecken. Und dann brach die Frage, die mir schon seit langem auf der Seele brannte, heraus: „Warum musst du das tun? Warum muss es so grausam sein? Du hast gesagt, du würdest uns befreien. Und du hast gesagt, dass dein Joch leicht ist. Aber wie sollen die Menschen denn mit dieser Schuld leben können? Dass du für sie sterben musst? Wegen ihrer Sünden?“
Jesus seufzte. Wirkte er in diesem Moment ein wenig resigniert? Ernst sah er mich an: „Glaube mir, ich weiß sehr wohl, dass ich von manchen falsch verstanden werde. Es geht hierbei nicht darum, euch Schuldgefühle aufzuladen. Es geht um Liebe.“ Er machte eine Pause. Sein Blick schweifte zu den schlafenden Jüngern.
Liebe? Ich verstand nicht. Was hatte das Kreuz mit Liebe zu tun? Doch ich traute mich nichts zu sagen. Wartete darauf, dass Jesus weiter sprach. Dann sah er mich wieder an und erklärte: „Es geht darum, dass nur die wahre Liebe das Böse besiegen kann. Die reine Liebe. Kein Mensch wäre in der Lage gewesen diese Liebe ein Leben lang in sich zu tragen. Deshalb bin ich hier. Ich werde den Tod besiegen, indem ich meine Feinde sogar noch an diesem Kreuz lieben werde. Ich werde die Liebe über den Tod hinaus in mir tragen und nichts, was nach mir kommt, kann diese Liebe zerstören.“
Ich wollte widersprechen. Bilder von ermordeten Kinderleichen, die erst in der letzten Woche wieder durch die Medien geisterten, von Vergewaltigungen und Krieg schossen durch meinen Kopf.
Doch Jesus fuhr bereits fort: „Ihr werdet das auf der Erde nicht immer so empfinden, weil das Böse scheinbar noch so viel Macht hat. Aber die Wahrheit ist, dass Gott größer ist. Dass seine allumfassende Liebe diese Welt trägt. Auch ihr könnt schon jetzt das Böse besiegen, wenn ihr die Liebe in euch zulasst, die Gott euch geben möchte.“

Ich musste schlucken, unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hatte Jesus nicht kurz zuvor noch zu seinen Jüngern gesagt, dass der Herrscher der Welt über ihn keine Macht haben würde, aber dass die Welt erkennen sollte, dass er den Vater liebt und so handelt, wie es ihm aufgetragen wurde?
Und hatte er nicht gesagt: „In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.“
Oder: „Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“
Diese Bibelstellen wirbelten innerhalb von Sekunden durch meinen Kopf. Ich schluckte. Müssen wir vielleicht erst lernen, Gottes Größe anzuerkennen, um zumindest ansatzweise zu verstehen, wie sehr er uns liebt? Ich spürte Jesu liebevollen Blick auf mir ruhen. So als wolle er mir Zeit lassen, das eben Gehörte zu verdauen. Schließlich meinte er sanft: „Bete dafür, dass der Vater mir Kraft gibt für das was vor mir liegt. Und nun solltest du besser gehen bevor sie aufwachen.“ Dabei deutete er lächelnd mit dem Kopf zu seinen schlafenden Jüngern. „Wir wollen doch die Geschichte nicht durcheinander bringen.“ Er hatte verstanden. Ohne dass ich erklären musste. Sogar jetzt noch schien er zumindest für einen kurzen Moment seine Angst vergessen zu können.
Irgendwie schaffte ich es, das Jahr 2007 mit zitternden Fingern in das Gerät einzutippen. Noch fast im gleichen Moment fand ich mich in dem Zelt auf dem Volksfest wieder.
Und er ging wieder weg und betete mit den gleichen Worten. Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst (soll geschehen).
Ich fühlte mich wie betäubt, unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Die Anderen, die von meinem Verschwinden offensichtlich nichts bemerkt hatten, sahen mich besorgt an. Aber ich konnte es nicht erklären. Noch nicht. Auch, wenn sie sich wunderten, dass ich an diesem Tag kaum noch einen Ton von mir gab. Ich musste das Geschehene zunächst einmal verdauen. Erst viel später schaffte ich es, darüber zu reden.



Andrea Christ



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