"du bist blind, weil du siehst..."
- hast du einen Blick für Gott? -





"du bist blind, weil du siehst..."





Wir sitzen uns gegenüber.
Ich beobachte Tschati sehr aufmerksam.
Er tut mir leid und das ist nicht nur so dahin gesagt. Nein, ich versuche mir, seit er hier ist, vorzustellen, wie es wohl ist, wenn man nie den blauen Himmel, die Gesichter der eigenen Eltern, ja noch nicht einmal die eigenen Hände betrachtet hat.
Tschati ist seit seiner Geburt blind.
Dunkle Nacht, oh wie schwer drückt mich das Innerlich zusammen, während meine Augen jede seiner Bewegungen verfolgen.
Er ist 10 Jahre alt und hat noch nie gesehen, wie ein Auto aussieht; noch nie seine lichtblonden Haare im Spiegel entdeckt...

Eine ganze Weile bleibt es still.
Tschati sitzt auf dem Sessel und scheint auf jedes Geräusch im Zimmer zu reagieren, mal mit einem Lächeln, mal erstaunt, manchmal aber verzieht er das Gesicht, wenn die Lautstärke meiner Kinder seine Geräuschempfindung zu übersteigen scheint.

Doch dann plötzlich lächelt er mich an und sagt:
„Du bist eine kleine Frau. Du hast Kinder mit einem guten Herzen.“
Ich bin ein wenig überrascht und auch verlegen. Wer ist schon gut?
Doch Tschati nickt mit dem Kopf und spricht mit überzeugter Stimme weiter:
„Du hast Mitleid, weil ich blind bin? Dein Sohn hat mir eine Tasse Saft gegeben, als ich hier her kam und der zweite teilte seine Kekse mit mir ohne ab zu zählen...
Während ich noch überlege, wie er ohne zu sehen, wissen kann, dass ich eine körperlich kleine Frau bin im Vergleich zu anderen, scheint Tschati in meinen Gedanken zu lesen und beginnt lachend zu erklären: „Du bist klein, weil deine Schritte leicht sind und deine Stimme kommt von nicht weit her, wenn ich neben dir stehe.“
Ich beginne zu staunen über so viel Beobachtungsgabe, obwohl es mir nicht neu ist, dass blinde Menschen andere Sinne besser ausgebildet haben als wir Sehenden.

Während wir so in ein Gespräch kommen, muss ich immer mehr bewundern, wie taff der Junge ist und wie unbeschwert er trotz seiner Behinderung durch sein Leben geht.
Ich erfahre viel über unseren Gast, über seine kranken Eltern, seine ältere, Schwester mit weichen, langen Haaren, seinen Lehrer in der Schule, der nach Marzipan riecht....
Immer mehr entdecke ich, dass Tschati anders denkt als ich. Er riecht, fühlt, schmeckt die Welt um sich herum.

„Weißt du, ich will gar nicht sehen können“, platzt er mitten im Gespräch munter heraus.
„Nicht?“, frage ich verwundert nach. „Ich könnt mir aber vorstellen, dass du dich über die bunten Blumen, den blauen Himmel und all die Gesichter der Menschen, die dich umgeben, freuen würdest. Würden dann nicht deine Geräusche plötzlich Bilder bekommen? Ich meine, du könntest doch so vieles entdecken, oder nicht?“
(Wenn Tschati nicht von Anfang an so offen gewirkt hätte, hätte ich ihn das nie und nimmer gefragt, doch bei diesem besonderen Jungen hatte ich das Gefühl, dass er sogar gern darüber spricht blind zu sein.)

„Nein, will ich nicht, denn ich sehe anders, aber besser.“
Tschati steht auf und kommt auf mich zu, setzt sich dann auf meinen Schoß und erklärt mir in den folgenden Minuten etwas, was ich in meinem Leben wohl nie mehr vergessen werde:
„Siehst du, ich habe die Traurigkeit in der Stimme meines Vaters gehört, als er arbeitslos wurde. Ich habe schon oft die lieblosen, verzweifelten Schreie der Mutter unserer Nachbarskinder gehört, wenn sie am Ende des Monats kein Geld mehr hatte.
Ich höre im Radio, dass Kinder andere Kinder aus Hass erstechen, dass Erwachsene Kriege führen und es dabei so schrecklich ist, wenn sich Kindergeschrei mit Bombenknall vermischt.
Ich fühle die gestressten Hände der Ärzte in der Klinik, die nie wirklich Zeit haben, wenn ich zur Untersuchung muss... Es muss furchtbar sein, das auch noch wirklich zu sehen.
Aber ich spüre die Wärme der Sonne, obwohl ich sie nie gesehen habe mit den Augen und rieche den Duft von Flieder und Rosen im Garten. Ich gehe gern durch das nasse Gras und summe mit den Vögeln im moosigen Wald...
Die Menschen habe ich nie gesehen, aber ich weiß, wer es gut meint und wer da drinnen (Tschati zeigt mit der Faust auf die linke Brust) kalt ist.
Ich muss es doch nicht mit den Augen sehen, das steht alles schon in den Buch, dass mir meine Mama immer vorgelesen hat. Du kennst doch die Bibel?“ Tschati unterbricht einen Moment und als ich nicke, erzählt er weiter.

„Wenn ich die Menschen sehen könnte, so wie du, ich glaub ich hätte Angst, blind zu werden für Gott. Ich würde vielleicht sehen, wie du aussiehst, würde lustige Filme sehen können, aber auch all das, was Menschen traurig, wütend, einsam macht. Am Ende aber wäre ich doch schrecklich traurig, denn Gott hat ja all die Dinge gemacht, die ich mag: die Sonne, den Regen, die Vögel, die Wärme im Sommer und die erfrischende Kälte im Winter mit dem so genialen Schnee...“
Entschlossen springt Tschati auf und stellt sich vor mich „Nein, ich will das nicht tauschen. Ich sehe lieber Gott und all das, was er gemacht hat für mich.
Siehst du Gott?- Er liebt uns und vielleicht sind die Menschen mit Augen gerade dafür blind, weil sie sehen können?“

Gut, dass Tschati als er zum Spielen geht, nicht sehen kann, wie viele Tränen aus meinen sehenden „blinden“ Augen rollen, weil mir klar geworden ist, dass er viel mehr sieht als ich... oder hat er es vielleicht doch gesehen?



Gaby Klaus




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