Die Unreine
- christliche Kurzgeschichte nach Markus 5, 21-37 -





Die Unreine




Die Wellen leckten schmatzend an den algenbewachsenen Planken des großen Fischerboots, das noch immer leicht schaukelte, obwohl seine Besatzung längst in der unbarmherzigen Nachmittagssonne auf der Mole stand. Eigentlich war nichts ungewöhnlich an diesem Nachmittag, an dem eine Gruppe Fremder im Hafen von Kapernaum an Land gegangen war. Augenscheinlich war auch an diesen Leuten nichts Ungewöhnliches. Und doch: Ohne genau zu wissen weshalb, fühlte sich die Frau von ihnen angezogen wie ein Insekt vom Honigtopf. Zaghaft näherte sie sich und sah sich immer wieder um, ob jemand hier wäre, der sie kannte. Unrein war sie, seit zwölf Jahren schon. Und wehe, sie käme irgendjemandem zu nahe! Jemand Reinem, wie diesen Männern dort. Nicht weit von ihr blieb eine Gruppe Frauen stehen, einfache Frauen. Sie tuschelten und dann streckte eine den Arm aus und rief unverschämt laut: „Der Rabbi ist da! Der Rabbi aus Nazareth!“

Also waren sie doch nicht gewöhnlich, diese Fremden. Die Frau hatte schon von ihm gehört, von diesem Rabbi Jeschua aus Nazareth. Auch unter ihresgleichen redete man von ihm, diesem wohl eigenartigsten aller Lehrer, der jemals durchs Land gezogen war. Nicht nur, was er lehrte, war ungewöhnlich: „Er hat schon viele geheilt“, hieß es. „Lahme, Blinde, Verkrüppelte, Aussätzige. Viele, viele.“ Müsste sie nicht zu den anderen Unreinen gehen und ihnen sagen, dass er hier war? Sie wandte sich schon halb zum Gehen, hielt aber inne und biss sich auf die Unterlippe. Was, wenn er schon wieder fort wäre, wenn sie mit den anderen zurückkam. Sie sah auf ihre Füße und schluckte, und das tat fast weh, denn ihr Mund und ihre Kehle waren ganz trocken. Sie ging nicht weg.

Als sie den Blick wieder hob, erschrak sie. Die Fremden waren kaum noch zu sehen in der Menge, die sie umdrängte. Nun kam von der Synagoge her mit schnellen Schritten ein großer Mann die Straße herunter. Wieder erschrak die Frau, denn sie kannte ihn: Jaïrus, der Synagogenvorsteher, ein sehr reiner Mensch. Aber er beachtete sie gar nicht. Sie sah, wie die Menge sich vor ihm teilte und dann war dieser große Mann auf einmal nicht mehr zu sehen. Nur seine Stimme konnte sie hören, verstand ein paar seiner aufgeregten Worte: „Tochter“, „sterben“, „mach sie gesund“. Von dem, mit dem er sprach, sah und hörte sie nichts, aber natürlich war es der Rabbi, wer sonst, und wahrscheinlich kniete Jaïrus vor ihm im Staub.

Die ganze Gruppe, Jaïrus vorne weg, setzte sich in Bewegung. Die Frau öffnete den Mund: Nein, nein, Rabbi Jeschua, bitte geh nicht weg, ich brauche dich auch, hier, hier bin ich, sieh mich an! Aber kein Wort kam über ihre Lippen. Dann schlossen sie sich fester als zuvor. Natürlich ging der Rabbi mit dem Vorsteher zu seinem Kind. Das gehörte sich ja wohl so. Wer war sie denn schon? Eine Unreine. Ja, früher, da war sie auch jemand gewesen. Eine hübsche junge Frau, Tochter eines der angesehensten Männer in der Stadt. Sie stand kurz vor der Heirat mit dem Sohn eines anderen angesehenen Mannes. Aber seine Familie hatte die Verlobung gelöst, als die Krankheit den Künsten auch des dritten Arztes widerstanden hatte. Das Geld, mit dem ihr Vater das große Hochzeitsfest hatte bezahlen wollen, verschwand in den Geldbeuteln weiterer Ärzte. Bis einer schließlich aussprach, ja ausspuckte, was wohl alle dachten: „Du bist verflucht, Frau! Vom HERRN gestraft! Wenn ich dir nicht helfen kann, kann es keiner. Nimm den Rest deines Geldes und ernähr dich davon, bis du stirbst!“ Aber einen Rest gab es nicht. Von da an lebte sie von Almosen. Deswegen war sie auch heute hergekommen: zum Betteln.

Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie ärgerlich zu verdrängen suchte. Ein paar Augenblicke lang sah sie der Gruppe nach. Dann zog sie sich mit zitternden Fingern den zerschlissenen, vor langer Zeit kräftig roten Schal um ihren Kopf tiefer in die Stirn. Die Hände zu Fäusten geballt, setzte sie einen Fuß vor den anderen, ohne zu wissen oder sich auch nur zu fragen, was sie antrieb. Langsam zuerst, doch mit jedem weiteren Schritt entschlossener, folgte die Frau dem Rabbi Jeschua und der Menge, die ihn umgab, auf der gepflasterten Straße hinauf Richtung Synagoge.

Bald blieb sie stehen und hielt sich keuchend die schmerzende Seite. Die Straße war steil und sie war es nicht gewohnt, schnell zu gehen. Nun spürte sie auch wieder die schmerzende Trockenheit in ihrer Kehle. Sie blickte auf und sah, dass die Spitze der Gruppe sich in der kurzen Pause, die sie sich gegönnt hatte, schon so weit entfernt hatte, dass der Rabbi nicht mehr zu erkennen war. Den großen Jaïrus, den konnte sie noch sehen. Sicher war der Rabbi immer noch neben ihm. Die Frau ging ein paar Schritte, weniger entschlossen als zuvor, denn eigentlich wusste sie: Sie konnte ihn nicht mehr einholen. Bald würden sie Jaïrus ‘ Haus erreichen und dann würde er sich um dessen Tochter kümmern, und wer weiß, ob er danach noch Zeit haben würde, …

Die Frau stutzte. Die Gruppe vor ihr blieb stehen, teilte sich, drängte sich zu beiden Seiten der Straße an die Mauer. Was war nur los? Nun hörte sie die Antwort: „Viam date!“, klang es vom Hügel herab - einer der wenigen lateinischen Ausdrücke, die die Frau kannte und verstand: Macht Platz! Dazu das Klappern von nagelbesetzten Sandalensohlen im Gleichschritt auf dem Pflaster. Die Frau lächelte in sich hinein. Vermutlich war sie weit und breit der einzige Mensch, der sich freute, die römischen Soldaten zu sehen. Sie blickte die Mitte der Straße hinauf. Anscheinend kam da eine ganze Zenturie den Hügel herunter. Überall am Rand zornige Gesichter. Einige Leute tuschelten. Die Frau teilte die Wut ihres Volkes auf die Römer nicht. Weder heute, noch überhaupt. Politischer Eifer war ihr fremd. Auch unter den Unreinen gab es immer wieder Aufrührer und solche, die eigentlich weder Einfluss noch Ahnung hatten, aber sich gerne bei jeder Gelegenheit wichtigmachten. Und für Hasstiraden gegen die Besatzer fand man immer und überall Zuhörer. Die Frau ahnte, auch wenn sie sich hütete, diesen Gedanken zu äußern, dass ihr großer Gott, der seit Menschengedenken mit den ungewöhnlichsten Mitteln wirkte, diese Leute für sich nutzte. Vom Kaiser in Rom bis hinunter zum rangniedrigsten Soldaten.

Jetzt und hier war in den Gedanken der Frau ohnehin kein Platz für Politik. Sobald das Ende des Trupps die Spitze der Gruppe hinter dem Rabbi passierte, würde dieser mit Jaïrus weitergehen. Sie fasste sich ein Herz und schritt weiter, ging beherzt zwischen den Soldaten und den sich angewidert an die Mauer drängenden Männern und Frauen hindurch. Nicht vor ihr wichen sie heute zurück, nein. Von ihr nahm wohl kaum jemand Notiz. Und sie selbst brauchte nun wirklich keine Angst zu haben, den unreinen Heiden zu nahe zu kommen. Noch unreiner konnte sie ja wohl kaum werden.

Tatsächlich erreichte die Frau die Spitze der Gruppe, bevor das Ende der Zenturie durch war. Sie sah Jaïrus, wie er die Hände rang. Natürlich war er entsetzt, weil sie gerade jetzt aufgehalten wurden. Sie sah, wie der Rabbi ihm eine Hand auf den Oberarm legte. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte, aber sie konnte sein Gesicht sehen, sein gütiges Gesicht. Hatte sie je zuvor einen gütigen Menschen gesehen? Der sonst immer streng dreinblickende Synagogenvorsteher tat der Frau leid, so verzweifelt, wie er jetzt gerade aussah. Nein, nein, sie würde den Rabbi nicht noch einmal aufhalten, ihn nicht belästigen. Sie wollte ihn nur berühren, und nicht einmal ihn, nur sein Gewand. Ganz tief bücken würde sie sich und den Saum seines Gewandes anfassen. Er würde es nicht einmal bemerken, aber ihr - ihr würde das helfen, da war sie sich ganz sicher. Auf irgendeine Art und Weise würde sich in wenigen Augenblicken ihr Leben verändern.

Der Rabbi und Jaïrus wandten sich nun zum Gehen und schon begann auch die Gruppe hinter ihnen, sich wieder zu schließen. Zwischen zwei Männern hindurch erreichte die Frau mit wenigen Schritten den Rabbi, beugte sich hinunter, ergriff den Saum seines Mantels mit der rechten Hand, ließ ihn wieder los und blieb stehen. Das war es. Sie hatte es geschafft und niemand hatte etwas gemerkt. Achtlos gingen die Männer und Frauen an ihr vorüber, und auch sie nahm keinen von ihnen wahr. Eine Welle schien ihren ganzen Körper zu durchfluten. Später würde sie sich fragen, wo diese Welle ihren Anfang genommen hatte und keine Antwort darauf finden. Sie schloss die Augen, damit nichts sie ablenken konnte von dem Wohlgefühl, das sie erfüllte, von diesem vollkommenen, makellosen Augenblick. Dass mit einem Mal kein Blut mehr aus ihr herausfloss, war nicht einmal das erste, was sie spürte. Dass sie keinen Durst mehr hatte, bemerkte sie als erstes. Dass ihr nichts, aber auch gar nichts fehlte. Vollkommen gesättigt war sie. Heil. Ganz und gar. Und rein.

Jetzt erst fiel ihr auf, dass die Gruppe nicht mehr weiterging. Der Rabbi stand vorne, ihr und den anderen Menschen zugewandt, Jaïrus mit flehendem Blick neben ihm. „Wer hat meine Kleider berührt?“, fragte Rabbi Jeschua. Ein junger Mann neben ihm fragte: „Die Menschen umdrängen dich von allen Seiten.  Wie kannst du da fragen: ‚Wer hat mich berührt?“ Rabbi Jeschua antwortete nicht und ließ stumm seinen Blick durch die Menge wandern. Die Frau hielt den Atem an. Wie war das möglich? Sie hatte doch nur sein Gewand…. Aber doch, natürlich hatte er es bemerkt. Diese ungeheure Kraft, die sie durchströmt hatte, immer noch durchströmte, die war ja nicht in seinen Mantel eingenäht. Natürlich hatte er bemerkt, dass sie ihn verlassen hatte. Und nun wollte er wissen, wer sie sich ungefragt genommen hatte. Einen Moment lang wollte sie davonlaufen. Wie hätte sie diese Ungeheuerlichkeit zugeben können? Doch dann traf sein Blick den ihren, ganz kurz nur, und sie wusste, dass er sie erkannt hatte. Aber dieser Blick war weder fordernd, noch vorwurfsvoll. Nicht: „Ich weiß, dass du es warst!“, war darin zu lesen, sondern: „Ich kenne dich, Tirza.“ Kein Wort sagte er, und doch nannte er sie beim Namen.

Sie ging voran und die Leute vor ihr traten wie selbstverständlich zur Seite. Nun stand sie vor ihm, vor diesem Mann, der auf den ersten Blick so gewöhnlich aussah, und von dem sie nun wusste, dass er ganz anders war als alle anderen hier, anders als alle anderen Menschen, arm oder reich, die sie jemals gekannt hatte. Sie ging in die Knie und beugte den Oberkörper vor, bis ihre Stirn das Pflaster berührte. „Rabbuni“, sagte sie. „Ich war es, bitte vergib mir.“ Und sie erzählte ihm hastig, wie lange sie schon krank gewesen war, und dass ihr niemand hatte helfen können, und dass sie, als sie ihn gesehen hatte, genau gewusst hatte, dass sie ihn nur berühren musste. Nicht mehr. Nur sein Gewand berühren und sie würde heil werden. All das sagte sie ihm und während sie das tat, verlor sie die Angst, dass man sie bestrafen würde. Einen Moment lang herrschte völlige Stille. Alle, sogar Jaïrus, schienen nur abzuwarten, was der Rabbi antworten würde. „Tochter“, sagte er, „dein Glaube hat dich gesund gemacht. Geh in Frieden. Du bist geheilt.“

Noch während er sprach, kamen einige Männer den Hügel herunter. Einer von ihnen wandte sich weinend an Jaïrus: „Deine Tochter ist tot. Du brauchst den Rabbi nicht mehr zu bemühen“. Jaïrus schlug die Hände vors Gesicht und krümmte sich, als hätte ihm jemand mit der Faust in den Magen geschlagen, aber Rabbi Jeschua sagte: „Hab keine Angst. Glaube nur.“ Hatte er dem Boten denn gar nicht zugehört? Dann wandte er sich den Leuten zu, die ihm gefolgt waren, gebot ihnen, zurückzubleiben, wählte ein paar seiner Freunde aus und ging mit ihnen und Jaïrus weiter die Straße hinauf. Tirza stand vom Boden auf und sah ihm nach. Wie gerne hätte sie sich noch bei ihm bedankt. Hab keine Angst. Glaube nur. Diese Worte wollte sie nie wieder vergessen.


Nicole Kruska








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