Das Zeichen
- Die Endzeit und die Zeichen -





Das Zeichen




Und sein Name wird an ihren Stirnen sein.
Offb. 22, 4


Larry Elder betrat das Gebäude der Registrierungsbehörde Broadway, Ecke Wallstreet. Er sah sich kurz um und reihte sich in die Warteschlange vor der Tür des Büros ein, an der ein Schild mit den Buchstaben A – D angebracht war. In Gedanken zählte er die Männer, Frauen und Kinder, die vor ihm dran sein würden. Hoffentlich reichte seine Mittagspause aus. In dreißig Minuten musste er zurück in der Bank sein und die Schlange vor ihm kam nur sehr schleppend voran.  

„Tun Sie das nicht, Sir!“

Elder drehte sich um. Hinter ihm stand ein blondes Mädchen von höchstens sechzehn, siebzehn Jahren. Hübsch, die Kleine, dachte er. Sie erinnerte ihn an Gwen, seine Tochter. Damals, im Frühjahr 2008, als sie – wie so viele junge Leute im ganzen Land – auf die Straße gegangen war, um gegen Präsident Bushs Irakpolitik zu demonstrieren. Nicht einmal fünf  Jahre war das jetzt her, dass ein Panzer der Nationalgarde sie überrollt hatte.

„Tun sie es nicht!“ wiederholte das Mädchen.   

„Was soll ich nicht tun?“

„Die Registrierung. Sie sind doch hier, um sich …“

„Natürlich“, unterbrach er. „Ist seit drei Monaten gesetzlich vorgeschrieben.“

Das Mädchen lächelte, aber es wirkte traurig.

„Gesetzlich vorgeschrieben, ja“, antworte sie. „Aber es ist nicht richtig.“

Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts.

„Nicht richtig?“, wiederholte Harry, während er zwei Schritte nach vorn machte. „Sag mal, du bist nicht zufällig eine von diesen…“

„… Jesus-Spinnern?“ ergänzte das Mädchen.

„Naja, so wollte ich es nicht ausdrücken.“

„Aber so nennen sie uns nun mal.“ Sie zuckte die Achseln. „Wissen Sie, das ist mir auch egal. Viel wichtiger ist, was einmal aus Ihnen wird, Mister …“

„Elder. Und wie heißt du?“

„Faith.“

„Okay, Faith. Was meinst du damit: was einmal aus mir wird!“

„Mr. Elder, Sie haben jetzt noch acht Leute vor sich, bis Sie an der Reihe sind. Das sind vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Minuten. Dann sind Sie dran und man wird Ihnen den ID-Chip unter die Haut implantieren.“ Sie sprach jetzt schnell, ihre Stimme klang aufgeregt. „Angeblich tut es nicht weh. Der Mikrochip ist ja auch nur ganz winzig. Sie spüren das Ding nicht, aber man kann Sie damit auf der ganzen Welt ausfindig machen, falls Sie dieses Land einmal verlassen sollten. Dieser Chip ermöglicht der Regierung die totale Kontrolle. Über alle Bürger dieses Landes. Sieben.“

„Sieben?“

„Noch sieben Leute vor Ihnen, Mister Elder – natürlich hat man uns die Sache als großartigste Erfindung des einundzwanzigsten Jahrhunderts verkauft. Millionen Tiere auf der Welt tragen den Chip schon in sich und jetzt sind wir Menschen dran. Und natürlich ist mal wieder alles nur zu unserem Besten. Wir brauchen ab sofort keinen Pass mehr, keinen Sozialversicherungsausweis und keine Krankenkassenkarte. Vor allem brauchen wir kein Bargeld mehr, wir müssen nur unsere Hand über einen Laserscanner halten und schon wird der Betrag von unserem Konto abgebucht. Hört sich toll an, nicht wahr? Und doch sollten Sie sich die Sache überlegen. Denn wenn Sie das Ding erstmal in sich haben, dann gibt es kein Zurück mehr. Noch fünf vor ihnen, Sir! Tun Sie es nicht! Gottes Wort sagt, wer das Zeichen oder die Zahl des Tieres annimmt, der ist für alle Zeit verloren.

„Was für ein Tier?“

„Der Antichrist. Er wird diese Technologie nutzen, um totale Kontrolle über die Menschen ausüben zu können. Überall auf der Welt. Nicht mehr lange und es wird eine Weltregierung geben!“

„Der Antichrist, hm?“ Elder schüttelte den Kopf. Eine Weltregierung! Ganz schön abgedreht, die Kleine.

Sie griff in eine Handtasche, die über ihrer Schulter hing und zog ein kleines, schwarzes Buch hervor.

„Darf ich Ihnen einen Vers aus der Bibel vorlesen, Mister Elder? Nur diesen einen?“

Vor ihm drehten sich bereits einige Leute um und starrten ihn und das Mädchen an, das jetzt die Bibel aufschlug und kurz darin blätterte.

„Und es bringt alle dahin“, las sie vor, „die Kleinen und die Großen, und die Reichen und die Armen, dass man ihnen ein Malzeichen in ihre rechte Hand oder in ihre Stirn gibt und dass niemand kaufen oder verkaufen kann, als nur der, der das Malzeichen hat, den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namen – “

 „He, was soll das Gequatsche? Belästigt die Kleine Sie etwa?“

Harry nickte dem Polizeibeamten zu, der unbemerkt hinter dem Mädchen aufgetaucht war und zuckte mit den Achseln. „Das ist eine von diesen … Enzeitfanatikern.“

„Hab ich mir schon gedacht, Mister. Diese Spinner tauchen seit einigen Wochen fast vor jedem Registrierungsbüro auf und versuchen die Leute davon abzuhalten, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen!“

„Hören Sie, Officer“, sagte Faith. „Unsere Generation erlebt das, was die Bibel die letzten Tage oder das Ende der Zeit nennt. Es ist die Zeit, die der Wiederkunft Jesu Christi vorangeht! Die Zeichen dafür erfüllen sich täglich vor unseren Augen – immer schwerere Erdbeben und Überschwemmungen, Seuchen, Kriege und Unruhen überall auf der Welt, Abfall vom christlichen Glauben –“

„Nehmen Sie diese Irre mit, Officer“, unterbrach eine elegant gekleidete Frau, die hinter Elder stand. „Diese Spinner glauben, sie können uns Angst machen mit ihren Weltuntergangsphantasien.“

Faith schüttelte den Kopf. „Lady, es geht nicht darum, Menschen Angst zu machen – die Bibel sagt: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“

„Pass mal auf, Schätzchen“, erwiderte die Frau. „Ich brauche deinen Gott nicht. Niemand braucht ihn! Die Vorstellung, dass es einen Gott gibt, ist nichts als eine menschliche Erfindung, verstanden?   

„Wenn Sie wüssten, wie sehr Sie ihn brauchen und wie sehr er Sie liebt!“

„Schluss jetzt mit der Predigt!“ Der Polizist fasste nach Faiths Arm.

„Komm mit, Mädchen!“

„Was geschieht nun mit ihr, Officer?“ wollte Harry wissen.

Der Polizist verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln. „Kleine Befragung auf dem Revier! Wenn sie kooperativ ist und uns sagt, wo sich weitere von diesen Jesus-Spinnern versteckt halten, passiert ihr nicht viel. Ansonsten …“ Er grinste wieder.

Während Harry Elder das Gebäude verließ, musterte er seinen rechten Handrücken, unter dessen Haut sich nun – für das menschliche Auge unsichtbar – ein winziger Mikro-Chip befand. Es hatte wirklich nicht lange gedauert und auch nicht wehgetan.

„Bitte, lassen Sie mich –“

Etwas Schweres schlug gegen ihre Brust und presste die Luft aus ihr heraus. Faith spürte einen furchtbaren Schmerz und Kälte kroch durch ihren Körper. Dann fühlte sie, wie ihr Geist ihren Körper verließ. Einen kurzen Augenblick lang sah sie sich selbst am Boden liegen, zwei Polizeibeamte über sich gebeugt.

„Verdammt, Joe – die stirbt uns“, stieß einer von ihnen hervor.

„Hättest sie vielleicht nicht so hart anfassen sollen, Frank.“

„Hab ich doch gar nicht“, wehrte sein Kollege ab. „Wahrscheinlich hatte sie ein schwaches Herz oder so was … He, sieh dir das an, Joe!“ Er wies mit dem Zeigefinger auf Faiths Stirn, auf der sich plötzlich ein kleines, blutrotes Zeichen bildete. „Was ist das denn?“

Die beiden Männer beugten sich über den Oberkörper des Mädchens, dessen Atem jetzt flacher ging.

„Sieht aus wie ein J“, meinte Joe.

Mit angehaltenem Atem beobachteten die Polizisten, wie nacheinander weitere Buchstaben auf der Stirn des Mädchens erschienen – ein E und ein  S, dann ein U und schließlich ein weiteres S!

Jesus – verdammt, was passiert hier?“ stieß Frank heiser hervor.

 

Faith hatte das Gefühl, durch die Zimmerdecke zu schweben. Einige Augenblicke lang bewegte sie sich durch etwas, das einem dunklen Tunnel glich, dann … wow – was war das? Woher kamen plötzlich dieses unglaubliche Licht, das über ihr aufstrahlte und sie einzuhüllen schien? Faith blickte an sich hinunter, sah ihre nackten Füße im Gras stehen, das grün und weich wie Samt war und ihr bis über die Knöchel reichte. Was … wo war sie? Und was war das für Musik? Sie hob den Kopf, lauschte den harmonischen Klängen, die leise an ihr Ohr drangen. Das war einfach wunderschön, aber woher kam es? Was passierte hier? Sie sah sich um. In der Ferne waren die Mauern einer Stadt zu sehen, die hoch in einen klaren Himmel hineinragte. Sie leuchteten im Sonnenlicht. Faith runzelte die Stirn. Sonnenlicht? Nein, eine Sonne war nirgends zu sehen, ebenso wenig wie Wolken. Und dann wusste sie, wo sie war. „Und die Stadt bedarf keiner Sonne, noch des Mondes, dass sie ihr scheinen, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm“, flüsterte sie. Aus der Ferne kam jetzt eine Gruppe Menschen auf sie zugelaufen. Als sie näher kamen, erkannte Faith einige von ihnen – ihren Bruder Ted, der bis vor einem Jahr Pastor einer Baptistengemeinde in Bagdad gewesen und bei einem Bombenanschlag gestorben war, einige Freunde, die erst vor kurzem durch einen Amokläufer in ihrer Kirche erschossen worden waren und ihre bereits vor fünf Jahren verstorbenen Großeltern Sam und Martha Harrison. Die beiden sahen genauso aus, wie Faith sie in Erinnerung hatte.

„Faithy!“ Grandma streckte ihr die Arme entgegen und umarmte sie. „Willkommen!“ Faith war dabei gewesen, als ihre Großmutter zu Hause einen Herzinfarkt erlitten hatte, sie war im Notarztwagen mitgefahren und hatte miterlebt, wie die alte Frau gestorben war. Hier war sie wieder die rüstige, kräftige Frau, die sie als Kind immer gekannt hatte.

Großvater ergriff ihre Hand und drückte sie. „Gehen wir in die Stadt“, sagte er. Seine Augen blitzten. „Er wartet bereits auf dich!“

Faith spürte, wie sich die Haare auf ihren nackten Unterarmen aufrichteten. Er wartete auf sie! Er – sie wusste, von wem ihr Großvater sprach. Sie liefen über die Wiese auf die Mauern der Stadt zu, die aussahen wie aus Glas gebaut, passierten eines der Tore. Überall waren Menschen, die fröhlich lachten und miteinander sprachen. Einige blickten auf, schienen Faith zu erkennen und winkten ihr zu, andere traten heran und umarmten sie, küssten sie auf die Wange und dankten ihr, dass sie mit ihnen über Jesus Christus gesprochen hatte.
Niemals zuvor hatte sie sich so sehr geliebt gefühlt wie in diesem Moment. Sie war zuhause.



Peter Hoeft







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