Der Besuch
- Eine Reise nach Jerusalem -





Der Besuch




Sie waren schon merkwürdige Zeitgenossen. Die Gerüchte waren nie verstummt. Ich gebe nicht viel auf das Geschwätz der Menschen, aber wenn so lange und so ausdauernd über etwas geredet wird, kann ich mir schon vorstellen, daß etwas dran ist.
Maria hätte ich das andererseits kaum zugetraut. Sie war mit uns aufgewachsen, wir kannten sie als ein sehr stilles, zurückhaltendes Mädchen. Von jungen Männern hatte sie sich ferngehalten, selbst ihren Joseph traf sie nur in Gegenwart anderer Menschen. Ausgerechnet dieses Mädchen schwanger von einem Unbekannten? Kaum vorstellbar.
Daß sie ein Kind erwartete, wußten wenige von uns. Daß es nicht von ihrem Verlobten war, wußten noch weniger. Joseph war ein anständiger Kerl, er hielt zu Maria und erkannte den Sohn als seinen an; ein paar von uns wußten es aber besser. Dazu gehörte ich. Außerdem sieht der Junge Joseph überhaupt nicht ähnlich.
Gestern war er in der Stadt, der Sohn meiner Nachbarn, ich habe ihn selbst in der Synagoge reden hören.

Es ist schon sonderbar gewesen. Jesus lehrte in unserem Versammlungshaus und niemand konnte sich erklären, woher er diese Weisheit, diese Einsichten nahm. Es waren ja eindeutig nicht nur die Worte, vor allem erstaunten uns die mächtigen Taten. Dieser Sohn des Zimmermanns. der nie in der ärztlichen Kunst ausgebildet worden war, heilte Krankheiten, als scheuche er Fliegen fort. Fast nebenbei, ohne Zauber und Beschwörungen. Er berührte manchen Kranken mit der Hand, anderen sagte er nur, sie seien gesund, und sie waren es tatsächlich.
Ein leichter Kopfschmerz ist nicht das, wovon ich rede. Auch nicht die verschnupfte Nase. Ich meine wirkliche Machttaten, ich meine, daß er zum Beispiel mit dem gelähmten Sohn des Zeltmachers aus unserer Straße ein paar Worte redete, und daß dieser Junge seither auf seinen dünnen Beinen durch die Gegend rennt, als habe er nicht seit seiner Geburt keine andere Fortbewegung gekannt, als sich mit seinen kräftigen Armen den Weg entlangzuziehen.
Es gab andere, die nach diesem Tag ihre Leiden vergessen konnten. Und es gibt genug Nachbarn und Freunde, die das nicht verstehen.
“Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns Joseph? Der gelernt hat, Holz zu hobeln? Wie könnt ihr glauben, daß er etwas besonderes ist?” fragte mich am späten Abend Sarah, die aus einem Nachbardorf zurückkam und von mir erfuhr, daß Jesus in der Stadt war.
“Natürlich ist er das. Aber ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen. Es sind Wunder geschehen.”
“Und seine Familie? Was hat die dazu zu sagen?”
“Nichts. Sie schweigen.”
“Wie meistens. Ich wünschte, ich könnte ihre Gedanken lesen. Warum reden sie nicht über ihn?”
Ich konnte das gut verstehen. Die Eltern hatten es schwer genug, wie gesagt, die Gerüchte um den unbekannten Vater des ersten Sohnes waren nie ganz verstummt. Und die vier übrigen Söhne wollten eigentlich nichts anderes, als wie normale Bürger unseres Ortes ihrer normalen Arbeit nachgehen. Den Töchtern ging es nicht anders. Der Alltag war das, was sie meistern mußten, und dabei brachten die gelegentlichen Besuche dieses Jesus immer wieder alles in Aufregung. Solange man nur hörte, er habe da und dort dies und jenes getan oder geredet, ging es ja noch. Aber nun war er wieder einmal in der Stadt und die Wogen schlugen hoch, wie so oft.

Aufregung hatte es schon oft um ihn gegeben, als der Junge gerade zwölf Jahre alt gewesen war, ging es los damit.

Maria und Joseph waren zusammen mit vielen aus dem Dorf und ihren Kindern nach Jerusalem gereist, wie sie es jedes Jahr taten. Wir bildeten immer eine Reisegruppe, so war es weniger gefährlich und man konnte einander vieles erleichtern unterwegs. Nazareth war schon immer bekannt für gute Nachbarschaft.
Der zwölfjährige Jesus war ein aufgeweckter, fröhlicher Junge, und schon damals seinen Altersgenossen weit überlegen, was seinen Verstand betraf. Manch einer sprach sogar von Weisheit, obwohl dieser Begriff bei einem Kind doch merkwürdig klingt. Doch so verkehrt ist er gar nicht.
Jesus verbrachte viel Zeit im Kreis der Spielkameraden, die ihn schätzten und gerne in ihrer Mitte hatten. Seine Familie, besser gesagt, seine Eltern, schauten nur ab und zu nach ihm, wußten sie ihn doch bei seinen Freunden und Geschwistern gut aufgehoben.
Daß sein Fehlen erst bemerkt wurde, als wir bereits eine ganze Tagesreise von Jerusalem entfernt waren, mag daran liegen, daß wir alle vom Fest des Passah sehr beeindruckt waren und viel auszutauschen, viel nachzusinnen hatten. Keiner achtete besonders auf die jungen Leute, die stets bei diesen Reisen für sich herumtobten oder auch nur als Gruppe wanderten. Am Abend, als sich die Familien zusammenfanden, um das Nachtlager vorzubereiten, kam Maria, schon etwas aufgeregt, zu mir.
“Hast du meinen Sohn gesehen?”
Ich lächelte. “Welchen, Maria?”
“Jesus. Ich kann ihn nicht finden.”
Gesehen hatte ich ihn nicht, aber auch nicht besonders darauf geachtet. Mir war so, als hätte ich ihn mit den Zwillingen der Näherin beim Holzsammeln gesehen, und das sagte ich Maria.
“Danke!” rief sie, und lief los, um die Zwillinge und ihren Sohn zu suchen.
Ich hatte mich geirrt, das erfuhr ich bald. Beim Holzsammeln war Jakobus dabei gewesen, der Jesus recht ähnlich sah, er war etwa ein Jahr jünger, aber schon genauso kräftig wie sein Bruder Jesus.
Joseph junior und Simon konnte man leichter unterscheiden, Judas, der jüngste Sohn der Zimmermannsfamilie, war damals noch nicht geboren.
Ich hatte also Jesus und Jakobus verwechselt, ich hatte die drei Holzsammler ja auch nur von weitem gesehen, und nicht besonders darauf geachtet. Es gab ja keinen Grund dazu.
Als alle Familien sich gesammelt hatten, als die jungen Leute befragt worden waren, wurde schnell klar, daß Jesus schon beim Aufbruch in Jerusalem gar nicht mehr gesehen worden war. Niemand hatte ihn an diesem Tag gesehen. Er mußte noch in der Stadt sein.
Wie gesagt, gute Nachbarschaft war uns schon immer wichtig. So gingen selbstverständlich einige von uns, darunter ich, mit den verzweifelten Eltern zurück nach Jerusalem, während der Rest der Reisegruppe den Weg zurück nach Nazareth fortsetzte, die übrigen Kinder von Maria und Joseph sicher in ihrer Mitte.
Ich war dabei, weil ich als alleinstehende Frau auf niemanden Rücksicht nehmen mußte, außerdem mochte ich Maria seit unserer Kindheit sehr. Wir sind im gleichen Alter, und wir waren schon immer gute Freundinnen.
Auf dem Weg zurück in die Stadt und den ersten Tag war sie noch recht gefaßt, aber als wir den Jungen nicht finden konnten, so sehr wir auch suchten, wuchs ihre Verzweiflung. Ich hielt sie am Abend das zweiten Tages der Suche im Arm und spürte ihr verzweifeltes Schluchzen und Zittern.
“Wo ist er nur? Wo kann er nur sein?”
“Wir werden ihn finden, Maria.” versuchte ich, die gramerfüllte Frau zu beruhigen. Um ehrlich zu sein, ich glaubte eigentlich nicht mehr, daß wir Erfolg haben würden, wir hatte zwei Tage und Nächte gesucht, ohne größere Ruhepausen, und nicht die geringste Spur ausfindig gemacht.

Im Tempel hatten wir ihn nicht vermutet. Daß wir dort hingingen, lag nur daran, daß Maria und Joseph den Allmächtigen in seinem Haus anrufen wollten, ihnen ihren Sohn zurückzugeben. Jesus saß in einem großen Kreis von Lehrern und unterhielt sich mit ihnen.
Man darf nicht vergessen, daß er erst zwölf Jahre alt war. Ein Junge, über dessen Verstand und Antworten die gelehrten Männer außer sich waren. Sie wollten ihn nicht gehen lassen. Es schien, als sei er der Lehrer und sie die Schüler.
Maria war überglücklich, daß er unverletzt und munter war, schloß ihn in die Arme und auch Joseph, der sonst zur Strenge und zur Distanz neigte, strich ihm über das Haar und drückte ihn an sich.
“Kind, warum hast du uns das angetan?” Marias Stimme zitterte, man hörte die Anspannung, die Verzweiflung der letzten Tage. “Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht!”
Jesus sah seine Mutter erstaunt an. Ehrlich und offen, wie er stets war, sagte er: “Wie kommt es, daß ihr mich gesucht habt? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?”
Ich war froh, daß außer Maria, Joseph und mir niemand diese Antwort gehört hatte. Das hätte den Gerüchten nur neue Nahrung verschafft. Man muß sich das vorstellen: Er sagt vor Joseph, dem ja der Tempel weiß Gott nicht gehört, daß er in dem sein muß, was seines Vaters Eigentum ist. Noch viel deutlicher kann man es kaum ausdrücken, außer man sagt direkt: Du bist nicht mein Vater.

Sie sprach nie mit anderen darüber. Mit mir jedoch tauschte sie gerne und oft ihre Gedanken, Eindrücke, Vermutungen und Hoffnungen aus. Sie konnte sich über Ungehorsam ihres Sohnes nicht beklagen. Es war die einzige Gelegenheit gewesen, bei der ich etwas derartiges beobachten konnte. Jesus war stets ein folgsamer Knabe, vor diesem Ereignis und danach.
Maria liebte alle ihre Kinder, aber diesem Erstgeborenen war sie aus meiner Sicht besonders zugetan. Was er sprach, wie er sich benahm, das alles merkte sie sich in allen Einzelheiten sehr genau.
Wir sprachen etwa ein Jahr später zufällig über diese Tage, als wir gemeinsam ein Mahl zubereiteten. Maria wußte noch jedes Wort, konnte sich genau an die sonst so weise wirkenden Männer im Tempel erinnern, die an den Lippen des Knaben hingen, als sei er der wiedergekehrte König Salomo, die Weisheit in Person.
“Eigentlich,” meinte Maria, “war er ja gar nicht ungehorsam damals. Niemand hatte ihn aufgefordert, mit uns abzureisen. Wir hatten es für selbstverständlich gehalten, daß er mit der Gruppe aufbricht und Jerusalem verläßt.”
“Maria, das ist ja wohl auch selbstverständlich!” rief ich.
“Schon, aber genauso selbstverständlich sollte eine Mutter darauf achten, wo ihre Kinder sind, wenn sie irgendwo abreisen möchte. Für Joseph gilt natürlich das gleiche.”
Ich hatte stets genau darauf geachtet. Nie, kein einziges Mal, hatte Maria von Joseph als dem Vater des Jungen gesprochen. Wenn es um Simon, Judas, Jakobus, Joseph junior oder die Mädchen ging, dann gebrauchte sie das Wort. Aber im Zusammenhang mit Jesus nie.
“Richtig, Maria, der Vater ist genauso verantwortlich wie die Mutter. Vor allem, wenn es um die Söhne geht.”
Sie ging mir nicht auf den Leim, sondern sagte vieldeutig: “Unser Vater im Himmel weiß, was wir bedürfen. Wir Menschen machen Fehler.”

Gestern, als Jesus in Nazareth war, und für diesen Trubel in der Synagoge gesorgt hatte, fragte ich Maria, ob sie ihn für einen Propheten halte.
Er hatte sich selbst so genannt. Oder auch wiederum nicht - es kommt darauf an, wie man das verstehen will. Gesagt hatte er: “Ein Prophet ist nicht ohne Ehre, außer in seiner Vaterstadt und in seinem Hause.”
Das ist, so klug bin ich selber, ein Sprichwort, das man auf alle möglichen Situationen anwenden kann. Aber so, wie er es gesagt hat, und in Verbindung mit all dem, was man über ihn hört und was man sieht, wenn er da ist, kann er auch gemeint haben: Ich bin ein Prophet, und ihr hier in Nazareth seid die einzigen Menschen, die das nicht begreifen wollen.
Maria jedenfalls lächelte, sah mich prüfend an und meinte: “Wenn jemand außer mir viel über ihn weiß, dann bist du das. Warum fragst du also?”
Ich sprach daraufhin zum ersten und einzigen Mal die Frage der Vaterschaft an.
“War er damals, vor inzwischen so vielen Jahren, wirklich bei seinem Vater, als wir ihn im Tempel fanden?”
Maria war nicht beleidigt oder aufgebracht, sondern sie wirkte leicht belustigt.
“Wenn du damit meinst, ob sein Vater ein Schriftgelehrter in Jerusalem ist: Nein. Andererseits würde ich sagen: Ja. Er war in dem, was seines Vaters ist. Ob Du das allerdings verstehen kannst, weiß ich nicht.”

Das war es eigentlich schon, was ich erzählen wollte. Ich weiß wirklich nicht, ob ich es verstehe. Jesus hat gestern hier nicht viele Wunder getan. Daß er überhaupt welche gewirkt hat, ist ja andererseits schon Bestätigung genug. Wer von uns kann denn mit einem Wort und einer Berührung Krankheiten heilen oder Dämonen in die Flucht jagen? Das sollen all seine Kritiker erst mal tun, bevor sie so klug über ihn urteilen.
Vielleicht würde es uns ja leichter fallen, ihn zu verstehen, ihn zu akzeptieren, wenn er nicht bei uns und mit uns groß geworden wäre. Wenn wir nicht wüßten, was für ganz normale Menschen seine Geschwister und deren Eltern sind. Einfache Leute eben, so wie wir alle.


(Nach Matthäus 13, 53-58 und Lukas 2, 41 - 52)



Günter J. Matthia






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